Zusammenfassung

Die Idee des Materialismus stammt aus der griechischen Antike und wurde während der Aufklärung im Frankreich des 18. Jahrhunderts wieder populär. In Deutschland stand dagegen der Idealismus in höchster Blüte, der seinen Höhepunkt mit Hegel erreichte. Obwohl diese spekulative Herangehensweise an die Welt von den Naturwissenschaftlern ab den 1830er Jahren zunehmend abgelehnt wurde, hatte sie z.B. bei Johann Wilhelm Ritter, Hans Christian Ørsted und Julius Robert Meyer auch zu Erkenntnissen über die Natur geführt.

Der Materialismus wurde in Deutschland durch Ludwig Feuerbach im Rahmen der Religionskritik benutzt, während andere, wie z.B. Carl Vogt, Ludwig Büchner und Jakob Moleschott, aus den Naturwissenschaften kommend diesen auf die Natur anwandten. Um die Jahrhundertmitte tobte in Deutschland ein regelrechter „Materialismus-Streit“, da befürchtet wurde, dass der Materialismus die Grundlagen von Staat und Religion untergraben würde. Schließlich setzte sich die heute weit verbreitete Meinung durch, dass Religion und Naturwissenschaften zwei unabhängige Welten sind. Dies beinhaltete einerseits die Meinung, dass es unmöglich ist, mittels der Vernunft die Existenz Gottes zu beweisen oder zu widerlegen. Anderseits wurde damit anerkannt, dass die Bibel keine wissenschaftlichen Aussagen über die Natur liefern kann.

An dieser Debatte nahmen Marx und Engels nicht teil. Ja, sie ignorierten sie weitgehend, wie auch die übrigen Materialisten mit Ausnahme von Feuerbach, obwohl ihre Grundgedanken zumindest mit denen von Engels sehr viele Übereinstimmungen besaßen. Die Hauptkritik von Engels an den anderen Materialisten war, dass sie mit dem Idealismus Hegels auch dessen Dialektik über Bord geworfen hätten.

Materialismus im antiken Griechenland und im aufgeklärten Frankreich

Die Idee des Materialismus, also der Verzicht auf ein höheres Wesen, eine menschliche Seele und auf jegliche nichtmateriellen Dinge, war zu Zeiten Feuerbachs kein neuer Gedanke. Sie stammt bereits von Denkern der griechischen Antike, wie z.B. Leukipp (5. Jahrh. v. Chr.) und Demokrit (460/450-370 v. Chr.) und war in Frankreich bereits weit entwickelt worden, bevor sie durch Feuerbach und andere auch in Deutschland Fuß fasste.

Zwar war diese Sicht der Welt im christlich geprägten Mittelalter verpönt, fand dann aber wieder mehr oder weniger offene Anhänger in der frühen Neuzeit, um dann während der Aufklärung in Frankreich wieder offen vertreten zu werden. Insbesondere der Arzt Julian Offrey de La Mettrie (1709-1751) vertrat einen ungeschminkten atheistischen Materialismus („L’Homme-Machine“ von 1748). Seine Meinung zwang ihn zur Emigration erst aus Frankreich dann auch aus den Niederlanden. Friedrich der Große nahm ihn in Potsdam auf, wo er auf Grund seiner radikalen Ansichten aber auch angefeindet wurde. Sehr einflussreich war auch das Werk „System der Natur“, das Paul-Henri Thiry d’Holbach (1723-1789) 1770 unter falschem Namen herausbrachte. Hierin vertrat er einen materialistisch-deterministischen Atheismus.

Idealistische Philosophie in Deutschland

In Deutschland fand diese Denkrichtung nicht viele Anhänger. Stattdessen kam hier in der klassischen deutschen Philosophie der Idealismus zu höchster Blüte. Sie begann mit Immanuel Kant (1724-1804), der selber bedeutende Beiträge zur Kosmologie leistete. Er billigte der empirischen Forschung aber nicht den Status einer Wissenschaft zu. Wissenschaft war für ihn nur, wenn mathematische Gesetzmäßigkeiten apriori erkannt werden können, so wie es beispielhaft für ihn in der Mechanik der Fall war.

Die idealistische Philosophie fand dann in Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) ihren Höhepunkt. Diese entwickelten Gesetzmäßigkeiten in der Natur durch Spekulation – sozusagen apriori. Diese naturphilosophisch-spekulative Herangehensweise an die Natur führte Johann Wilhelm Ritter (1776-1810) (er entdeckte 1801 das Ultraviolett) und Hans Christian Ørsted (1777-1851) (er entdeckte 1819 die Ablenkung der Kompassnadel durch fließenden Strom und damit den Zusammenhang zwischen Elektrizität und Magnetismus) zu wichtigen Entdeckungen. Und auch bei der Aufstellung des Energieprinzips durch Julius Robert Meyer (1814-1878) und bei den Entdeckungen Faradays (1791-1867) spielten philosophisch-heuristische Vorstellungen eine bedeutende Rolle.[1]S. Hermann 1978, S. 249. Die meisten Naturforscher in Deutschland sahen diese Betrachtungsweise allerdings als zunehmend hinderlich an. Der Mensch und die Natur sollten vielmehr mit den empirisch gefundenen Erkenntnissen erklärt werden – in gewissem Sinne der Siegeszug des englischen Empirismus á la Francis Bacon (1561-1625) bei den deutschen Naturforschern.

Materialistische Philosophie in Deutschland

Aus dieser Gegenbewegung entstand der Materialismus in Deutschland. Entscheidenden Anteil daran hatte in der Tat der Philosoph Ludwig Feuerbach (1804-1872), der ihn auf das Gebiet der Religionsphilosophie anwandte. Aber es gab noch eine Reihe weiterer Vertreter, die ihn mit naturwissenschaftlichen Überlegungen begründeten. Die Vertreter dieser Richtung, die man als naturwissenschaftliche Materialisten bezeichnet, waren allesamt ursprünglich Naturwissenschaftler und/oder Ärzte, wie z.B. Carl Vogt (1817-1895), Ludwig Büchner (1824-1899) – ein jüngerer Bruder von Georg Büchner – und Jakob Moleschott (1822-1893). Sie warfen mit der spekulativen, idealistischen Philosophie praktisch die gesamte Philosophie als solche über Bord. Außerdem lehnten die Materialisten die Existenz einer Seele und die Vorstellung von Gott ab. Alles Standpunkte, die auch Friedrich Engels teilte. Der entscheidende Unterschied war, dass Engels den Determinismus ablehnte und die Dialektik beibehalten wollte. Ansonsten glichen sich die Positionen weitestgehend, so dass man Engels ebenfalls als Vertreter des naturwissenschaftlichen Materialismus ansehen kann.

Marx und Engels und die übrigen Materialisten

Die Werke von Vogt, Büchner und Moleschott wurden z.T. Bestseller. Sie waren auch engagierte Vertreter der bürgerlichen Revolution. Engels geht in seinen philosophischen Schriften inhaltlich auf diese Denker überhaupt nicht ein. Wenn er sie erwähnt, dann bezeichnet er sie als „Vulgärmaterialisten“, als „metaphysische Materialisten“ oder als „Reiseprediger und Karikaturen“[2]Dialektik der Natur, MEW, Bd. 20, S. 331 f. Immerhin hat Engels im Jahre 1873 (ebd., S. 691) Notizen unter dem Stichwort „Büchner“ niedergeschrieben, in denen er auch inhaltliche Kritikpunkte … Continue reading. Karl Marx bezeichnete Büchner als einen „Knirps“[3]In einem Brief an Ludwig Kugelmann vom 5. Dezember 1868 (MEW, Bd. 32, S. 579). Marx hatte zwar im Jahre 1860 ein komplettes Buch gegen Carl Vogt (MEW 14, S. 381–686) geschrieben. Aber darin findet … Continue reading.

Der philosophische Hauptvorwurf von Engels gegenüber den „metaphysischen Materialisten“ lautete, wie er ihn ja auch gegenüber Feuerbach erhoben hatte, dass sie neben dem Idealismus von Hegel auch seine Dialektik über Bord geworfen hätten. Obwohl insbesondere Feuerbach auch heute noch aktuelle Ansichten zur Psychologie des Menschen vertreten hat, werden seine Schriften heute nicht mehr gelesen. Die übrigen Materialisten sind einer größeren Öffentlichkeit nicht mal mehr dem Namen nach bekannt. Dies mag zum Teil auch an der Ignoranz von Friedrich Engels gegenüber diesen Denkern liegen, deren Gedanken so eng mit den seinen verwandt waren.

Der Materialismus-Streit

Damals hatten ihre Ansichten jedenfalls „breite Schichten des damaligen Bürgertums ergriffen und bewegt“,[4]Materialismus-Streit 2012, S. XXXIII. so dass von ihren Gegnern ein regelrechter „Kampf gegen den Materialismus“[5]So ein anonymer Autor in der Deutschen Vierteljahresschrift 1855, Heft IV, Nr. LXXII, S. 1-58; hier zit. n. Materialismus-Streit 2012, S. 271. ausgerufen oder von einer „weltgeschichtlichen Seuche“[6]So der Mediziner und Zoologe Rudolf Wagner (1805-1864) in seiner Rede während der 31. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Göttingen 1854 (zit. n. Materialismus-Streit 2012, S. 80.). gesprochen wurde. So wurde den Materialisten z.B. vorgeworfen, dass sie die Grundlagen des Staates und der Religion zerstören würden. Marx und auch Engels, der sich ja besonders intensiv mit den Naturwissenschaften und dem Materialismus beschäftigt hatte, haben sich an diesem „Materialismus-Streit“ nicht beteiligt. Sie spielten in der Debatte auch keine Rolle, was zeigt, dass ihre Ansichten in der bürgerlichen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wurden.

Für Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke kennzeichnet der Materialismus-Streit einen „folgenreichen Schritt in der Bewußtseinsgeschichte“, denn der Religion

„gelingt es nun nicht mehr, den unausweichlichen methodischen Materialismus der Naturwissenschaften in die Einheit des traditionellen, weitgehend religiös geprägten Weltbilds zu integrieren. Eine Einheit der Weltsicht scheint dann nur noch auf materialistischer Grundlage möglich, und als Alternative zu ihr bietet sich lediglich die Überzeugung von der Unvereinbarkeit von Wissen und Glauben und ihre Bewältigung durch eine ‚doppelte Buchhaltung’ an.“[7]Materialismus-Streit 2012, S. XXXII

Und diese Debatte markiert nicht nur die endgültige Trennung von Naturwissenschaft und Religion, sondern auch die relative Trennung von Naturwissenschaft und allgemeiner Philosophie. Das mag daran liegen, dass die meisten Philosophen die Naturwissenschaften nicht mehr verfolgen konnten. Es liegt auch an der Geringschätzung der Materialisten gegenüber der Philosophie, da sie der Meinung waren, dass sie sich in positives Wissen auflösen werde. So waren es späterhin vor allem philosophierende Naturwissenschaftler selber, die sich Gedanken über philosophische Fragen ihres Faches machten, aber Bestandteil der wissenschaftlichen Ausbildung ist Philosophie und Geschichte der Wissenschaft nicht mehr. Die Medizin, die allerdings auch nicht zu den Naturwissenschaften gezählt wird, bildet hier eine Ausnahme, da in diesem Fach Ethik und Geschichte der Medizin fester Bestandteil des Studiums sind.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 S. Hermann 1978, S. 249.
2 Dialektik der Natur, MEW, Bd. 20, S. 331 f. Immerhin hat Engels im Jahre 1873 (ebd., S. 691) Notizen unter dem Stichwort „Büchner“ niedergeschrieben, in denen er auch inhaltliche Kritikpunkte genannt hat: „1. Das Schimpfen auf die Philosophie […], die trotz alledem den Ruhm Deutschlands bildet, und 2. die Anmaßung, die Naturtheorien auf die Gesellschaft anzuwenden und den Sozialismus zu reformieren. So zwingen sie uns zur Notiznahme.“ (Ebd., S. 472). Die Herausgeber der MEW-Bände vermuten, dass Engels eine Schrift gegen Büchner plante, zu der es aber niemals kam (s. Anm. 276). In einer Anmerkung von Engels selber zu seinem Text, wird er noch wesentlich deutlicher und bezeichnet Büchner als „Dogmatiker des plattesten Abspülicht [Spülwasser, lt. Grimms Wörterbuch] des deutschen Aufklärichts, dem der Geist und die Bewegung der großen französischen Materialisten abhanden gekommen“ (ebd.).
3 In einem Brief an Ludwig Kugelmann vom 5. Dezember 1868 (MEW, Bd. 32, S. 579). Marx hatte zwar im Jahre 1860 ein komplettes Buch gegen Carl Vogt (MEW 14, S. 381–686) geschrieben. Aber darin findet sich keine Auseinandersetzung mit dessen philosophischen Ansichten.
4 Materialismus-Streit 2012, S. XXXIII.
5 So ein anonymer Autor in der Deutschen Vierteljahresschrift 1855, Heft IV, Nr. LXXII, S. 1-58; hier zit. n. Materialismus-Streit 2012, S. 271.
6 So der Mediziner und Zoologe Rudolf Wagner (1805-1864) in seiner Rede während der 31. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Göttingen 1854 (zit. n. Materialismus-Streit 2012, S. 80.).
7 Materialismus-Streit 2012, S. XXXII