Zusammenfassung:

Nach dem erzwungenen Ende seiner Tätigkeit als Chefredakteur der „Rheinischen Zeitung“ im März 1843 und der Hochzeit mit seiner langjährigen Braut Jenny von Westphalen im Juni zog das Ehepaar nach Paris, wo Marx mit Arnold Ruge die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ herausgeben wollte.

Die Ziele der Zeitschrift umriss Marx in einem Brief an seinen Mitherausgeber: „Wir können also die Tendenz unsers Blattes in ein Wort fassen: Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Es handelt sich um eine Beichte, um weiter nichts. Um sich ihre Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur für das zu erklären, was sie sind.
Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.“

Es gelang nicht, Franzosen als Autoren zu gewinnen, so dass in der einzigen Ausgabe, die 1844 erschien, nur Beiträge von deutschen Autoren vertreten waren. Neben Heinrich Heine und Georg Herwegh und Briefen verschiedener Schreiber, steuerten die drei Kommunisten Moses Heß, Friedrich Engels und Karl Marx Artikel bei.

Besonders die Beiträge von Karl Marx unter dem Titel Über die Judenfrage[1]MEW 1, S. 347-377, den er Ende 1843 schrieb, und „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“[2]MEW 1, S. 378-391, den er zur Jahreswende 1843/44 schrieb, sind für die Entwicklung seines Denkens entscheidend. Es sind die ersten Veröffentlichungen, die Marx als Kommunist geschrieben hat. Man kann an der völlig spekulativen Herangehensweise und an der zentralen Bedeutung des Entfremdungsbegriffes die enge Geistesverwandtschaft mit Moses Heß erkennen. Auch Engels hatte von Manchester aus zwei Beiträge geschickt. Besonders seine Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie[3]MEW, Bd. 1, S. 499-524. waren für Marx sehr bedeutsam, weil Marx dadurch die grundlegende Bedeutung der Ökonomie für die Entwicklung und Erklärung der Gesellschaft klar wurde.

Die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“

Nach dem erzwungenen Ende seiner Tätigkeit als Chefredakteur der „Rheinischen Zeitung“ im März 1843 widmete sich Marx seiner Braut Jenny von Westphalen und heiratete sie am 19. Juni.[4]Im Brief vom 13. März d.J. an Ruge hatte der seit „7 Jahren“ Verlobte diesem in großer Vorfreude gestanden: „Ich kann Ihnen ohne alle Romantik versichern, daß ich von Kopf bis zu Fuß [sic] … Continue reading Nach einer Hochzeitsreise auf dem Rhein und allerlei Literaturstudien wanderten die Frischvermählten im Oktober nach Paris aus, „da die hiesige Luft leibeigen macht und ich in Deutschland durchaus keinen Spielraum für eine freie Tätigkeit sehe“, wie er Arnold Ruge mitteilte.[5]Brief vom September 1843 aus Kreuznach (MEW 1, S. 343). Zudem hatten sich seine akademischen Pläne zerschlagen, weil sein Mentor Bruno Bauer wegen seiner radikal religionskritischen Schriften seine Stelle in der Theologischen Fakultät in Bonn verloren hatte. Außerdem schien Marx Gefallen an einer publizistischen Tätigkeit gefunden zu haben. Und mit Arnold Ruge hatte er jemanden gefunden, der schon erfolgreich auf diesem Gebiet tätig war und mit Marx Pläne für neue Projekte schmiedete und der ihm sogar Hoffnung machte, damit seinen Lebensunterhalt wenigstens zum Teil bestreiten zu können.[6]Siehe Brief von Ruge an Marx vom 1. Februar 1843 (MEGA2 III/1, S. 389 f.). Schließlich hatten sie sich darauf verständigt, die „Deutsch-Französischen-Jahrbücher“ herauszugeben. Als Verlagsort wurde Paris ausgewählt.[7]Begeistert plante Ruge eine gemeinsame „Kommune“ mit Bediensteten: „Ich will Herwegh und Maeurer und womöglich auch Sie bereden, daß wir zusammen hineinziehn und Menage machen, dergestalt … Continue reading Die Zensur war dort zwar etwas strenger als in Brüssel, aber in Paris lebten damals über 80.000 Deutsche, die Ruge als potentielle Abnehmer ihrer Bücher betrachtete.[8]Cornu, Mönke 1961, S. IXL. Ruge spricht sogar von 85.000 (Brief an Marx vom 11. August 1843, in MEGA2 III/1, S. 409). In dem Brief wägt er auch ab, ob Brüssel oder Paris als Verlagsort geeigneter … Continue reading Ganz euphorisch schrieb er an Marx: „Wir wollen hier in Paris ein Organ gründen, in dem wir uns selbst und ganz Deutschland völlig frei und mit unerbittlicher Aufrichtigkeit beurtheilen.“[9]Brief vom August 1843 (MEGA2 III/1, S. 411).

Für die „Jahrbücher“ sollten sowohl französische als auch deutsche Autoren gewonnen werden. Allerdings fanden sich keine Franzosen zur Mitarbeit bereit. So wurde die einzige Ausgabe – eine Doppelausgabe –, die im Februar 1844 erschien, allein von Deutschen im Exil bestückt. Außer Marx und Heß steuerte Engels aus Manchester noch zwei Artikel bei. Heine und Herwegh stellten je ein Gedicht zur Verfügung. Da Ruge erkrankte, übernahm Marx die Herausgabe und gab durch seine eigenen Beiträge und die von Engels der Zeitschrift eine eindeutig kommunistische Prägung, da es Moses Heß zwischenzeitlich gelungen war, ihn von der Notwendigkeit der Abschaffung des Privateigentums zu überzeugen.[10]Siehe dazu auch Cornu, Mönke 1961, S. XLII. Dies trug zum finanziellen Misserfolg des Projektes bei, da Preußen nun die Einfuhr untersagte. Außerdem führte dieser Sinneswandel von Marx zum Bruch mit Ruge. Andererseits war damit die Voraussetzung geschaffen, dass Marx und Engels im August 1844 ihre theoretische Übereinstimmung feststellen konnten, womit ihre lebenslange Freundschaft begann.

Die Ausgabe beinhaltete unter anderem Briefe von Marx, Ruge, Ludwig Feuerbach, Moses Heß und Michail Bakunin. Den letzten Brief von Marx an Ruge, den dieser abdruckte, hatte er im September 1843 aus Kreuznach geschrieben. Darin umreißt Marx die Zielsetzung ihrer gemeinsamen Zeitschrift und gibt sich noch ganz undogmatisch und noch nicht als Anhänger des Kommunismus zu erkennen:

„Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.“

Und Marx fährt fort:

„Ich bin daher nicht dafür, daß wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, im Gegenteil. Wir müssen den Dogmatikern nachzuhelfen suchen, daß sie ihre Sätze sich klarmachen. So ist namentlich der Kommunismus eine dogmatische Abstraktion“.[11]MEW 1, S. 344.

Marx strebte mit ihrem Projekt nichts weniger an als die „Reform des Bewußtseins“, die nur darin“ „besteht“, „daß man die Welt ihr Bewußtsein innewerden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, daß man ihre eignen Aktionen ihr erklärt. Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden.“

Und endlich schließt er mit dem berühmten Zitat:

„Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. […] Es wird sich endlich zeigen, daß die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zustande bringt.

Wir können also die Tendenz unsers Blattes in ein Wort fassen: Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns. Sie kann nur das Werk vereinter Kräfte sein. Es handelt sich um eine Beichte, um weiter nichts. Um sich ihre Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur für das zu erklären, was sie sind.“[12]MEW 1, S. 346 (Hervorhebungen immer nach dem Original. RS).

Diese Zeilen sind noch durchdrungen vom junghegelianisch gewendeten hegelschen Idealismus, wenn Marx schreibt, dass „die Welt […] nur das Bewußtsein“ ihres „Traum[es] von einer Sache […] besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.“ Das heißt, es ist nicht mehr die Idee, die direkt die Wirklichkeit bestimmt, wie bei Hegel, aber der Schritt von der Erkenntnis und dem Bewusstsein einer Sache bis zu ihrer Realisierung ist ein kurzer. Das einzig materialistische daran ist, dass der Mensch nun gebraucht wird, um die Idee in der Wirklichkeit zu realisieren. Aber, ob der Mensch überhaupt erkennen kann, was realistisch ist und dies mit der Erkenntnis dann auch sofort realisieren kann, wird nicht problematisiert. Der Katzenjammer dieses Kurzschlusses zwischen Idee, Erkenntnis und Realität sollte nach dem Scheitern der Revolutionen von 1848/49 bei Marx umso stärker werden.

In den beiden Beiträgen,[13]Es handelt sich dabei um die Artikel „Über die Judenfrage“ (MEW 1, S. 347-377), den er zuerst schrieb (S. Isabel Monal in „Gattungswesen“ (HKWM, Band 4, Sp. 1251).), und „Zur Kritik der … Continue reading die Marx für die „Jahrbücher“ verfasste, wurde er dann schon wesentlich deutlicher. Und in der „Kritischen Randglosse“ zu einem Artikel von Arnold Ruge über den Schlesischen Weberaufstand für den „Vorwärts“ im August 1844 greift er diesen dann ganz massiv an, so dass der Bruch zwischen den beiden Weggefährten offenbar wird.[14]S. MEW 1, S. 392 ff. Marx war ja inzwischen dank der Überzeugungsarbeit von Moses Heß zum Kommunismus konvertiert und hat sich mit diesem zusammen im Jahre 1847 auch sehr kritisch über Ruges Bücher über die Pariser Zeit geäußert.[15]„Moses Heß unter Mitwirkung von Karl Marx: Dottore Graziano’s Werke. Zwei Jahre in Paris, Studien und Erinnerungen von A. Ruge“ MEGA2 I/5 (2017), S. 647-667, s.a. Cornu, Mönke 1961, S. … Continue reading

Karl Marx: Zur Judenfrage

Marx kritisiert in seinem Aufsatz zwei Veröffentlichungen seines vormaligen Freundes und Mentors Bruno Bauer, der darin als Voraussetzung der Judenemanzipation verlangt hatte, dass sie ihre Religion aufgeben müssten. Dem hielt Marx entgegen, dass eine politische Emanzipation für Juden möglich wäre in einem Staat, der sich vom Christentum emanzipiert, wie es in Frankreich und den USA der Fall war. Auch Menschenrechte können die Juden erhalten, da diese die Religionsfreiheit umfassen. Allerdings seien die Juden wie auch die gesamte Gesellschaft selbst nach Gewährung der Menschenrechte von der menschlichen Emanzipation noch weit entfernt, weil die Menschenrechte nur individuelle Rechte enthalten, wie z.B. das Recht auf Privateigentum, die den Menschen vom Gattungswesen entfremden.

In einer zweiten Argumentationsfigur behauptet Marx dann, dass in der bürgerlichen Gesellschaft der jüdische Geist bereits herrschen würde, der aus Schacher und Eigennutz bestünde und dessen Gott das Geld sei. Erst wenn sich die Menschheit vom Judentum emanzipiert hätte, wären auch die Juden wirklich emanzipiert. Jedwede Religion als Ausdruck der Entfremdung vom Gattungswesen würde sich durch diese Emanzipation und die dadurch bewirkte Aufhebung der Entfremdung in Luft auflösen.

Obwohl Marx sich antisemitischer Argumentationsmuster bediente, ist die Argumentation nicht antisemitisch, weil sie sich nicht per se gegen Juden richtete, sondern gegen alle Menschen, die vom jüdischen Schacher-Geist beseelt sind. Allerdings sind diese Äußerungen sehr pejorativ und diskriminierend, so dass man Marx durchaus Sozial-Chauvinismus vorwerfen kann, weil er die Vertreter des egoistischen „jüdischen Geistes“ theoretisch aus der Menschheit ausgrenzte und praktisch für minderwertig erklärte.

Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung

Mit dem kurzen Aufsatz „Hegelsche Rechtsphilosophie, Einleitung“ beginnt „das eigentliche Marx’sche Denken“ (Gerd Koenen). Marx macht hier genauso spekulativ weiter, wie er es von Hegel und Bruno Bauer gelernt hatte. Nur war er inzwischen dank Moses Heß zum Kommunisten geworden und hoffte wie dieser auf die Erlösung von der Entfremdung durch das Proletariat.

In diesem Artikel hört man noch mehr als deutlich die Religionskritik, von der Marx als Junghegelianer ja kam, heraus. Nun aber sollte es damit sein Bewenden haben und an die Stelle der Kritik der Religion müsse nun die Kritik des Rechts und der Politik treten, womit sich die „Kritik des Himmels verwandelt […] in die Kritik der Erde“, so Marx. Und der „Kampf gegen die Religion [… wurde] mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.

Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“

Und „Kampf“ bedeutete für Marx dabei keine sachliche Auseinandersetzung, sondern einen „Krieg“ zu führen oder in ein „Handgemenge“ zu geraten, in dem es darauf ankomme, den „Gegner […] zu treffen“.

„Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.

Und wer könnte die Verhältnisse umwerfen? „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehn.

Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt. In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat.“

Marx war also nicht nur der Meinung, dass die Abschaffung des Privateigentums und damit der menschlichen Entfremdung durch das Proletariat in Deutschland und Europa auf der Tagesordnung stand. Er vertrat zudem die Meinung, dass dies nur geschehen könne, wenn der „Blitz des Gedankens“ des „Philosophen“ in den „naiven Volksboden eingeschlagen“ sei und die „Philosophie“ als „Kopf“ das „Proletariat“ als „Herz“ bei der „Emanzipation“ der Menschheit führen würde. Zudem würde diese Befreiung zwar vom „Schmettern des gallischen Hahns“ „verkündet“, aber das „gründliche Deutschland“ würde die „Emanzipation des Menschen“ dann verwirklichen. Seine Prophezeiungen sah Marx vollauf bestätigt durch den Schlesischen Weberaufstand, der kurze Zeit später ausbrach.

Hiermit verkündete Marx einen doppelten Politik-Chauvinismus, von dem er und auch Engels Zeit ihres Lebens nicht lassen sollten. Einmal erklärte er die Führungsrolle und damit die Überlegenheit des Philosophen gegenüber den Arbeitern und dann die Überlegenheit des so geführten deutschen Proletariats gegenüber dem Proletariat der übrigen Nationen. Und dies alles in einer Situation, in der es mit Ausnahme von England praktisch noch gar kein Proletariat gab.

Mit diesen Vorstellungen brachte er seine bisherigen Bundesgenossen, die Radikaldemokraten Bruno Bauer und Arnold Ruge, gegen sich auf, schuf aber die Grundlage für die Freundschaft mit Friedrich Engels.

Für Marx stand zu diesem Zeitpunkt die Aufhebung der Entfremdung im Mittelpunkt seines Denkens, weil er selber ein zutiefst entfremdeter Mensch war. Deshalb sollte er auch niemals die befreiende Rolle der Entfremdung erkennen, die ja Voraussetzung der Erkenntnis des Menschen selbst und der Welt um ihn herum sowie die Bedingung der individuellen Freiheit ist.

Friedrich Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie

Es war nicht die erste Arbeit, die Engels als Kommunist verfasste, aber es war die erste Arbeit, in der er die Ökonomie umfassend als Grundlage des Verständnisses der gesellschaftlichen Verhältnisse in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft benutzte. Da dies den entscheidenden Unterschied des „wissenschaftlichen Sozialismus“, wie Engels später ihre Theorie bezeichnete, gegenüber allen anderen – nach Engels „utopischen“ – sozialistischen Ansätzen ausmacht, kann dieser kleine Aufsatz mit Fug und Recht als Gründungsdokument des Marxismus angesehen werden. Engels war geradezu prädestiniert für diese Betrachtungsweise. Er war kein Philosoph, er stand als Unternehmer mit beiden Beinen im wirklichen Leben und er war Ende des Jahres 1843 seit einem Jahr Kommunist und lebte in der Welthauptstadt des Kapitalismus – in Manchester. Andererseits hatte er die philosophischen Diskussionen um Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach intensiv verfolgt, so dass es ihm gelang, die Entfremdung dem Sinne nach und sogar den Begriff des „Gattungsbewusstseins“ geschickt in seine ökonomische Argumentation einzubauen. Durch diese Einbeziehung der Junghegelianischen Philosophie gelang es Engels, Karl Marx und ein Stück weit auch Moses Heß von der Überlegenheit des ökonomischen Ansatzes zu überzeugen. Marx begann umgehend nach der Lektüre dieses Aufsatzes mit seinen ökonomischen Studien, die ihn sein Lebtag nicht mehr loslassen sollten. Nicht zu Unrecht gilt die ökonomische Analyse des Kapitalismus als der wichtigste Beitrag von Karl Marx zum Marxismus. Nachdem die beiden sich dann im August 1844 getroffen hatten und ihre Freundschaft und Zusammenarbeit damit begründet ward, überließ Engels das Thema der Ökonomie vollständig seinem neuen Freunde und unterstützte ihn auf jede erdenkliche Weise, damit er seine ökonomische Analyse abschließen konnte, woran Marx bekanntlich scheiterte.

Aber Engels’ Schrift war nicht nur grundlegend für den Marxismus, weil sie Marx den entscheidenden Anstoß gab, sich mit Ökonomie zu beschäftigen. Sie enthielt bei aller von Engels selbst eingestandenen Konfusion in der Definition der Begriffe (Wert, Produktionskosten etc.) auch schon wesentliche Bestandteile der späteren Theorie von Marx. Wie z.B. die Überproduktionskrisen, die zu einer Revolution führen müssen, nach der die Gesellschaft die Produktion kollektiv planen kann und so die kapitalistische Anarchie hinter sich lässt.

Engels stellte auch schon die These auf, dass die Industrialisierung durch den Einsatz von Maschinen und Agrochemie und die Wissenschaft eigentlich eine unbegrenzte Steigerung der Produktion für eine weiter wachsende Bevölkerung gewährleisten würde, wenn nur die kapitalistische Konkurrenz beendet wäre und die Gesellschaft die Produktion nach ihren Bedürfnissen planen könnte. Stattdessen erzeuge die kapitalistische Konkurrenz immer wieder Überproduktion – oder wie Engels hier schreibt „Überreichtum“ –, während die Arbeiter immer mehr verarmen und ihre Zahl immer größer wird, weil sich das Kapital in die Hände von immer weniger geldgierigen Spekulanten konzentriere. An diesen inneren Widersprüchen müsse der Kapitalismus notwendig zu Grunde gehen, woraus dann der Kommunismus entstünde, so Engels.

Frappierend an diesem Text ist der Hass, den Engels gegenüber der Nationalökonomie, die er als „Bereicherungswissenschaft“ beschimpft, und den Ökonomen artikuliert. Als nächstes trifft der pietistisch grundierte moralische Bannstrahl von Engels die Händler und Spekulanten. Aber zuvörderst wettert er gegen die Ökonomen und unter den Ökonomen besonders gegen Thomas Robert Malthus. Dieser hatte mit seiner Bevölkerungstheorie die Antitheorie zum Kommunismus, in dem alle Menschen friedlich und im Überfluss zusammenleben, aufgestellt. Er hatte behauptet, dass eine gestiegene Lebensmittelproduktion die Anzahl der Menschen so sehr vermehren würde, dass der Wohlstand des Einzelnen sich nicht verbessern, sondern sogar noch verschlechtern würde. So würde der Mangel nie enden und Kommunismus unmöglich. Immerhin erkannte Engels an, dass dieser „Kampf aller gegen alle“ und die zunehmende Verelendung tatsächlich für den Kapitalismus gelten würde, aber natürlich nicht für den Kommunismus, weil die Produktion viel stärker gesteigert werden könne, als die Bevölkerung. Dieser Kampf gegen Malthus sollte Marx und Engels bis an ihr Lebensende nicht mehr loslassen.

Engels irrte vollständig mit der Behauptung, dass einer immer weiter wachsenden Bevölkerung ein steigender Lebensstandard garantiert werden könne. Denn irgendwann sind die Ressourcen der Erde erschöpft. Aber er hatte immerhin recht mit der erstaunlich hellsichtigen Beobachtung, dass auf Grund der Industrialisierung für geraume Zeit die Produktion der Lebensmittel stärker steigen könne, als die Bevölkerung, so dass der Wohlstand der Menschen zunehmen würde. Dass dies aber gerade dem Kapitalismus gelingen würde, hätte Engels natürlich als absurd angesehen. Tatsächlich ist dies aber in den folgenden 180 Jahren geschehen und diese Wohlstandsvermehrung hatte den erfreulichen Effekt – den weder Engels noch Malthus geahnt hatten –, dass die Zunahme der Weltbevölkerung immer weiter abgenommen hat und in wenigen Jahrzehnten ganz zum Stillstand kommen wird.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 MEW 1, S. 347-377
2 MEW 1, S. 378-391
3 MEW, Bd. 1, S. 499-524.
4 Im Brief vom 13. März d.J. an Ruge hatte der seit „7 Jahren“ Verlobte diesem in großer Vorfreude gestanden: „Ich kann Ihnen ohne alle Romantik versichern, daß ich von Kopf bis zu Fuß [sic] und zwar allen Ernstes liebe.“ (MEW 27, S. 416). Dem heutigen Leser kommt dieses Geständnis, das man auch nur einem sehr engen Freunde machen würde, durchaus sehr romantisch vor. Oder sollte Marx tatsächlich „von Kopf bis zu Fuß“ verliebt gewesen sein, ohne romantische Gefühle dabei verspürt zu haben?
5 Brief vom September 1843 aus Kreuznach (MEW 1, S. 343).
6 Siehe Brief von Ruge an Marx vom 1. Februar 1843 (MEGA2 III/1, S. 389 f.).
7 Begeistert plante Ruge eine gemeinsame „Kommune“ mit Bediensteten: „Ich will Herwegh und Maeurer und womöglich auch Sie bereden, daß wir zusammen hineinziehn und Menage machen, dergestalt daß wir einen Koch und eine Küche für alle 4 Familien haben und einen gemeinsamen Eßsaal, im übrigen aber jeder vollkommen seine eigenen Zimmer pp. Auch die kleinen Dienste des Bettmachens und Zimmerreinigens besorgt eine Person, der Portier. Das Wasser, das Fleisch, das Brot Alles wird einem ins Haus getragen. Ich glaube auch sogar das Gemüse. […] Ich wünschte, daß Sie sich entschlössen, lieber hier zu wohnen, als im Elsaß. Maeurer (er hat Frau und 2 Kinder) hat mir hoch und theuer versichert, daß er (ohne den Tobac und die Cafe’s) mit 2700 Francs auskomme. Wir wollen 3000 Fr. und etwas mehr noch nehmen; so denk‘ ich, werden Sie es können und wenn uns die Menage d. h. ein Stück Communismus gelingt, so müssen wir noch billiger leben.“ (Brief an Marx vom 22. September 1843, in: MEGA2 III/1, S. 412).
8 Cornu, Mönke 1961, S. IXL. Ruge spricht sogar von 85.000 (Brief an Marx vom 11. August 1843, in MEGA2 III/1, S. 409). In dem Brief wägt er auch ab, ob Brüssel oder Paris als Verlagsort geeigneter ist. Im September sind dann die Würfel für Paris gefallen (Brief von Ruge an Marx vom 22. September 1843, in: MEGA2 III/1, S. 412).
9 Brief vom August 1843 (MEGA2 III/1, S. 411).
10 Siehe dazu auch Cornu, Mönke 1961, S. XLII.
11 MEW 1, S. 344.
12 MEW 1, S. 346 (Hervorhebungen immer nach dem Original. RS).
13 Es handelt sich dabei um die Artikel Über die Judenfrage(MEW 1, S. 347-377), den er zuerst schrieb (S. Isabel Monal in „Gattungswesen“ (HKWM, Band 4, Sp. 1251).), und „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ (MEW 1, S. 378-391; im folgenden zitiert als Marx: Rechtsphilosophie, Einleitung).
14 S. MEW 1, S. 392 ff.
15 „Moses Heß unter Mitwirkung von Karl Marx: Dottore Graziano’s Werke. Zwei Jahre in Paris, Studien und Erinnerungen von A. Ruge“ MEGA2 I/5 (2017), S. 647-667, s.a. Cornu, Mönke 1961, S. 401-424.