Zusammenfassung

Das erste erhaltene philosophische Werk von Marx ist seine Dissertation aus dem Jahre 1841. Hierin beschäftigt er sich mit den Unterschieden der Naturvorstellungen von Demokrit und Epikur. Und obwohl es sich bei diesen um die bedeutendsten materialistischen Denker der Antike handelt, spielt ihr Materialismus für Marx in seiner Arbeit überhaupt keine Rolle.

Marx wollte stattdessen das Jahrtausende alte Rätsel lösen, warum trotz identischer Weltsicht, dass außer Atomen und der Leere nichts existiere, die Ansichten der beiden Philosophen über die Atome und deren Verhalten sich diametral widersprechen.

Marx charakterisierte die Widersprüche mit folgenden Worten:

„Der Skeptiker und Empiriker [Demokrit RS], der die sinnliche Natur für subjektiven Schein hält, betrachtet sie unter dem Gesichtspunkte der Notwendigkeit und sucht die reale Existenz der Dinge zu erklären und zu fassen. Der Philosoph und Dogmatiker [Epikur RS] dagegen, der die Erscheinung für real hält, sieht überall nur Zufall; und seine Erklärungsweise geht vielmehr dahin, alle objektive Realität der Natur aufzuheben.“

Die Ursachen sah Marx in den unterschiedlichen Ansichten über die Atome und deren Verhalten. Während Demokrit diesen nur geradlinige Bewegungen und Zusammenstöße zubilligt, gibt es für Epikur noch eine dritte Bewegung, die davon zufällig abweicht, so dass es Raum gibt für die menschliche Freiheit und nicht alles determiniert ist, wie bei Demokrit.

Für Demokrit haben die Atome nur hypothetischen Charakter, während sie für Epikur real sind, weshalb er ihnen auch reale Eigenschaften beimisst – wie z.B. verschiedene Größen, Formen und die Schwere.

Die Zeit ergibt sich aus der Sinneswahrnehmung. Die Atome versenden Abbilder, die der Mensch wahrnimmt, wodurch die Atome vergehen.

Epikur postulierte – nach Marx –, dass die Himmelskörper nicht ewig sein könnten, weil sonst das höchste Ziel der Philosophie – die menschliche Ataraxie (die Seelenruhe) – gefährdet sei. Für Epikur waren die Himmelskörper somit die allgemeine Form des Selbstbewusstsein, weil hierin die Atome vereint seien, die „die Materie in der Form der Selbständigkeit, der Einzelheit“ darstellten.

„Bei Epikur ist daher die Atomistik […] die Naturwissenschaft des Selbstbewußtseins […] bis zur höchsten Konsequenz, welches ihre Auflösung und bewußter Gegensatz gegen das Allgemeine ist […]. Dem Demokrit […] bleibt [das Atom dagegen …] reine und abstrakte Kategorie, eine Hypothese“.

Aus dem „göttlichen“ „Logos“ Hegels, das sich im menschlichen Selbstbewusstsein offenbart, hatte Marx mit Hilfe des „selbstbewussten“ Atoms des Epikur das autonome „göttliche“ „menschliche Selbstbewusstsein“ abgeleitet und damit Hegel bereits zum ersten Mal vom Kopf auf die Füße gestellt.

 

Das göttliche „menschliche Selbstbewusstsein“ in der Dissertation von Karl Marx

Die erste überlieferte Schrift von Karl Marx,[1]S.a. Wolfgang Bialas: „Frühschriften“ in HKWM, Band 4, Sp. 1050-1063. Viele der Frühschriften wurden erstmals vollständig in den Jahren 1927 bis 1932 im Rahmen der ersten MEGA … Continue reading in der er sich mit philosophischen Fragen auseinandergesetzt hat, ist seine Dissertation.[2]Karl Marx: „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange.“ In: MEW 40, S. 257-373 (im folgenden zitiert als Marx: Dissertation). „Marx‘ … Continue reading Hierin tritt er als spekulativer Junghegelianer der Bauerschen Schule auf. Er war zwar schon entschiedener Atheist, aber obwohl er sich mit den beiden wichtigsten materialistischen Philosophen der Antike beschäftigt, ist der Unterschied von Idealismus und Materialismus für ihn hier völlig unrelevant. Auch die später so zentrale Frage der Entfremdung spielte allerhöchstens am Rande eine Rolle. Kurz und gut. Inhaltlich erleben wir hier einen ganz anderen Marx, als in allen späteren Schriften.

Aber einigen seiner typischen Charaktereigenschaften, die ihn auch in seinem späteren Leben kennzeichnen werden, begegnen wir hier schon. So kündigt bereits der junge Doktorand weitreichende publizistische Pläne an, die er niemals realisieren wird, wie er es später auch immer wieder tat.[3]Dieser Frage wird in dem Beitrag „Marx – der große Projektemacher“ nachgegangen werden. Nicht minder typisch ist der Aplomb, mit dem der erst 21-Jährige hier auftritt, indem er ankündigt, ein Jahrtausende altes Rätsel der griechischen Philosophie gelöst zu haben. Ebenfalls sein Leben lang beibehalten hat er die durch die Schriften von Hegel geschulte verquaste Sprache, mit der er es vortrefflich verstand, einfache Sachverhalte unverständlich darzustellen – und so den Eindruck tiefschürfender Erkenntnisse zu erwecken. Die Voraussetzungen, die andere Menschen später dazu veranlassen werden, ihn für ein Genie zu halten, sind also bereits vorhanden.

Wie der Titel schon sagt, ging es Marx in seiner Dissertation um die Unterschiede im Denken der Naturphilosophen Demokrit (460/459-um 370 v. Chr.) und Epikur (341-271/270 v. Chr.). Die eigentliche Arbeit ist nicht sehr umfangreich, ermöglicht aber einen plastischen Eindruck in die Gedankenwelt des Autors.[4]Der reine Text mit Vorrede und Inhaltsverzeichnis umfasst 45 Seiten (allerdings fehlen Teile des Textes). Es folgen drei Seiten Fragmente aus dem Anhang: „[Kritik der plutarchischen Polemik gegen … Continue reading In der Vorrede für die geplante Veröffentlichung seiner Dissertation, die aber zu seinen Lebzeiten unterblieb,[5]Teile der Arbeit wurden im Jahre 1902 erstmals von Franz Mehring veröffentlicht. „Eine vollständige Fassung des erhaltenen Manuskriptes […] veröffentlichte David Rjazanov 1927 in der ersten … Continue reading betonte er selbstbewusst:

„Man betrachte diese Abhandlung nur als Vorläufer einer größern Schrift, in der ich ausführlich den Zyklus der epikureischen, stoischen und skeptischen Philosophie in ihrem Zusammenhang mit der ganzen griechischen Spekulation darstellen werde.“[6]Marx: Dissertation, S. 261. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Marx umfangreiche Veröffentlichungen ankündigte. In den meisten Fällen kam er aber nie dazu, sich intensiver mit dem … Continue reading

Aus diesen Plänen wurde nichts. Marx hat sich im Laufe seines Lebens mit diesem Thema nicht mehr beschäftigt.

Obwohl Demokrit und Epikur eine materialistische Naturphilosophie vertraten, spielte die Frage Idealismus-Materialismus für Marx in seiner Dissertation keine Rolle[7]So auch die Einschätzung der Verfasser des Vorwortes des 40. Bandes der Marx-Engels-Werke, verfasst vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (MEW 40, S. XI). – eine überraschende Tatsache, die auch Heinrich bestätigt.[8]Heinrich 2018, S. 353. Am Anfang legte er zwar ein klares Bekenntnis zum Atheismus ab, indem er erklärte, dass die Philosophie sich

„gegen alle himmlischen und irdischen Götter [wendet], die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen. Es soll keiner neben ihm sein.“[9]Marx: Dissertation, S. 262.

Dies war ganz im Sinne seines ebenfalls zum Atheisten gewandelten Mentors, des Theologen Bruno Bauer. Eine Veröffentlichung dieser Provokation wäre aber einer im Gefolge von Bruno Bauer angestrebte akademische Karriere in der Theologischen Fakultät nicht förderlich gewesen.[10]Weshalb Bruno Bauer auch von diesem Zitat abgeraten hatte (Brief an Marx von Anfang April 1841 (MEGA III/1, S. 357 f.; s.a. Heinrich 2018, S. 340). Aber auch das Thema Atheismus verfolgte Marx in seiner Dissertation nicht weiter.

Stattdessen erklärte Marx in der „Vorrede“, dass er glaube, „ein bis jetzt ungelöstes Problem aus der Geschichte der griechischen Philosophie gelöst zu haben.“[11]Marx: Dissertation, S. 261. Er vertrat zudem die Meinung, dass „diese Systeme […] der Schlüssel zur wahren Geschichte der griechischen Philosophie“[12]Ebd., S. 262. seien. Zwar habe Hegel „das Allgemeine der genannten Systeme im ganzen richtig bestimmt;“ jedoch

„hinderte den riesenhaften Denker seine Ansicht von dem, was er par excellence spekulativ nannte, in diesen Systemen die hohe Bedeutung zu erkennen, die sie für die Geschichte der griechischen Philosophie und den griechischen Geist überhaupt haben.“[13]Marx: Dissertation, S. 261 f.

Diesen Fehler des „riesenhaften Denkers“ wollte Marx nun korrigieren, indem er die Bedeutung der Philosophie insbesondere von Epikur aufzeigte. Mit seiner hohen Wertschätzung von Epikur stand er in der Geschichte der Philosophie damals ziemlich alleine dar, wie er selber einleitend feststellte, indem er schrieb, dass alle Autoren darin übereinstimmten, „daß Epikur seine Physik von Demokrit entlehnt habe“, also nur ein Epigone sei. Und doch bliebe das „Rätsel“, dass sich die beiden „in allem […] diametral entgegen[stehen], was Wahrheit, Gewißheit, Anwendung dieser Wissenschaft, was das Verhältnis von Gedanken und Wirklichkeit überhaupt betrifft.“[14]Marx: Dissertation, S. 270; s.a. ebd., S. 266. Zwar unterschieden sich die beiden nach Marx nicht in ihrem grundlegenden Glauben, dass außer Atomen und der Leere nichts existiere, aber – so Marx – ihre Ansichten über die Atome und deren Verhalten seien geradezu diametral entgegengesetzt. Und hieraus ließen sich auch ihre oben skizzierten Differenzen erklären.

Marx schrieb dazu:

„Während aber Demokrit die sinnliche Welt zum subjektiven Schein macht, macht sie Epikur zur objektiven Erscheinung.“[15]Ebd., S. 271.
„Während Demokrit, […] sich dem empirischen Wissen in die Arme wirft, verachtet Epikur die positiven Wissenschaften; denn nichts trügen sie bei zur wahren Vollendung.“[16]Ebd., S. 273.
„Soviel ist also historisch sicher, Demokrit wendet die Notwendigkeit, Epikur den Zufall an; und zwar verwirft jeder die entgegengesetzte Ansicht mit polemischer Gereiztheit. […]
Die Notwendigkeit erscheint nämlich in der endlichen Natur als relative Notwendigkeit, als Determinismus.“[17]Ebd., S. 274.

Zusammenfassend schreibt Marx über diese widersprüchlichen Widersprüche:

„Wir sehen also beide Männer sich Schritt für Schritt entgegenstehn. Der eine ist Skeptiker, der andere Dogmatiker; der eine hält die sinnliche Welt für subjektiven Schein, der andere für objektive Erscheinung. Derjenige, der die sinnliche Welt für subjektiven Schein hält, legt sich auf empirische Naturwissenschaft und positive Kenntnisse […]. Der andere, der die erscheinende Welt für real hält, verachtet die Empirie […]. Aber noch höher steigt der Widerspruch. Der Skeptiker und Empiriker, der die sinnliche Natur für subjektiven Schein hält, betrachtet sie unter dem Gesichtspunkte der Notwendigkeit und sucht die reale Existenz der Dinge zu erklären und zu fassen. Der Philosoph und Dogmatiker dagegen, der die Erscheinung für real hält, sieht überall nur Zufall; und seine Erklärungsweise geht vielmehr dahin, alle objektive Realität der Natur aufzuheben. Es scheint eine gewisse Verkehrtheit in diesen Gegensätzen zu liegen.“[18]Ebd., S. 277.

Diese Unterschiede in den philosophischen Ansichten über die Welt erklärte Marx mit den unterschiedlichen Verhaltensweisen, die Beide den Atomen beimaßen.

Dies ist der Inhalt des 2. Teils seiner Dissertation. Im 1. Kapitel[19]Ebd., S. 278 ff. geht es um die „Deklination des Atoms von der geraden Linie“. Der Unterschied der physikalischen Vorstellungen der beiden Philosophen besteht laut Marx darin, dass Demokrit den Atomen nur zwei Bewegungen zubilligte, während Epikur eine dritte einführte. Bei Demokrit können sich die Atome nur in gerade Linie bewegen und sich bei einem Zusammentreffen abstoßen. Epikur hält dagegen noch eine zufällige Abweichung („Deklination“) von der geraden Linie für notwendig. Hiermit kann er sowohl dem Determinismus Demokrits umgehen als auch die menschliche Freiheit begründen, die bei einem absoluten Determinismus ja allenfalls eine Illusion sein könne.[20]Interessanterweise hat ja die vorherrschende Deutung der Quantenphysik den „objektiven Zufall“ wieder in Amt und Würden eingesetzt. Es gibt auch hier Philosophen, die dies als Grundlage der … Continue reading

Im 2. Kapitel[21]Ebd., S. 285 ff. geht es um die „Qualitäten des Atoms“. Marx vertritt hier die Meinung:

„Nur die Verschiedenheit der Figuren – denn weiter ist in Gestalt, Lage, Stellung nichts enthalten – interessieren den Demokrit.“

Und weiter:

„Während wir also bei Demokrit bloße hypothetische Bestimmungen zur Erklärung der Erscheinungswelt finden, wird sich uns bei Epikur die Konsequenz des Prinzips selbst darstellen.“[22]Ebd., S. 287 f.

Marx vertrat also die Meinung, dass Demokrit die Atome nur als Hypothese ansah, mit der er glaubte, die Realität erklären zu können, während Epikur sich über die Realität der Atome den Kopf zerbrach, ohne hiermit die sichtbare Wirklichkeit erklären zu wollen – mit Ausnahme der Himmelskörper, wie wir noch sehen werden.

Die verschiedenen Eigenschaften – oder Qualitäten –, die Epikur nun einführte, zwangen ihn auch gleich zur Verneinung dieser Eigenschaften. So schrieb Marx:

Erstens haben die Atome Größe. Andrerseits wird auch die Größe negiert. Sie haben nämlich nicht jede Größe, sondern es sind nur einige Größenwechsel unter ihnen anzunehmen. Ja es ist nur die Negation des Großen ihnen zuzuschreiben, das Kleine, und auch nicht das Minimum […] sondern das Unendlichkleine, das den Widerspruch ausdrückt.“

Und weiter:

„Die zweite Eigenschaft der epikureischen Atome ist die Gestalt. Allein auch diese Bestimmung widerspricht dem Begriff des Atoms, und es muß ihr Gegenteil gesetzt werden. Die abstrakte Einzelheit ist das Abstrakt-sich-Gleiche und daher gestaltlos. Die Unterschiede der Gestalt der Atome sind daher zwar unbestimmbar, allein sie sind nicht absolut unendlich. Vielmehr ist es eine bestimmte und endliche Anzahl von Gestalten, durch die die Atome unterschieden werden. Es ergibt sich hieraus von selbst, daß es nicht so viel verschiedene Figuren als Atome gibt, während Demokrit unendlich viele Figuren setzt.“[23]Marx: Dissertation, S. 288.

Und er fährt fort:

„Höchst wichtig ist es endlich, daß Epikur als dritte Qualität die Schwere anführt; denn im Schwerpunkt besitzt die Materie die ideale Einzelheit, die eine Hauptbestimmung des Atoms bildet. Sind also die Atome einmal in das Reich der Vorstellung versetzt, so müssen sie auch schwer sein.“[24]Ebd., S. 289.

Im 3. Kapitel[25]Ebd., S. 290 ff. geht es um die widerstreitenden Begriffe von „Wesen“ und „Existenz“. Hier zeigt sich deutlich, der idealistische Hintergrund, vor dem das Denken von Marx zu dieser Zeit noch stattfand. Aber hören wir ihn selbst:

„Der Widerspruch zwischen Existenz und Wesen, zwischen Materie und Form, der im Begriff des Atoms liegt, ist am einzelnen Atom selbst gesetzt, indem es mit Qualitäten begabt wird. Durch die Qualität ist das Atom seinem Begriff entfremdet, zugleich aber in seiner Konstruktion vollendet. Aus der Repulsion und den damit zusammenhängenden Konglomerationen der qualifizierten Atome entsteht nun die erscheinende Welt.
Bei diesem Übergange aus der Welt des Wesens in die Welt der Erscheinung erreicht offenbar der Widerspruch im Begriff des Atoms seine grellste Verwirklichung. Denn das Atom ist seinem Begriff nach die absolute, wesentliche Form der Natur. Diese absolute Form ist jetzt zur absoluten Materie, zum formlosen Substrat der erscheinenden Welt degradiert.“[26]Ebd., S. 293.

Diese Ausführungen erinnern sehr stark an die Entfremdung des „Logos“ bei seiner Selbstentäußerung in der Welt, die ja auch zur Entfremdung führte.

Im 4. Kapitel[27]Ebd., S. 294 ff. kommt Marx nun auf die „Zeit“ zu sprechen, die seiner Meinung nach

„die abstrakte Form der sinnlichen Wahrnehmung ist: so ist nach der atomistischen Weise des epikureischen Bewußtseins die Notwendigkeit vorhanden, daß sie als eine besonders existierende Natur in der Natur fixiert werde. Die Veränderlichkeit der sinnlichen Welt nun als Veränderlichkeit, ihr Wechsel als Wechsel, diese Reflexion der Erscheinung in sich, die den Begriff der Zeit bildet, hat ihre gesonderte Existenz in der bewußten Sinnlichkeit. Die Sinnlichkeit des Menschen ist also die verkörperte Zeit, die existierende Reflexion der Sinnenwelt in sich.“[28]Ebd., S. 296.

Der Grund hierfür sah Marx in folgendem Tatbestand:

„Denn eben dadurch, daß die Körper den Sinnen erscheinen, vergehen sie. Indem nämlich die [Abbilder; im Original griechisch, RS] sich beständig von den Körpern abtrennen und in die Sinne strömen, indem sie ihre Sinnlichkeit außer sich als eine andere Natur haben, nicht an sich selbst, also nicht aus der Diremtion [Trennung, RS] zurückkehren: lösen sie sich auf und vergehen.
Wie also das Atom nichts als die Naturform des abstrakten, einzelen Selbstbewußtseins ist: so ist die sinnliche Natur nur das vergegenständlichte empirische, einzele Selbstbewußtsein, und dies ist das sinnliche. Die Sinne sind daher die einzigen Kriterien in der konkreten Natur, wie die abstrakte Vernunft in der Welt der Atome.“[29]Ebd., S. 297.

Hier taucht der Begriff „Selbstbewußtsein“ auf, der in dieser Arbeit eine ganz zentrale Rolle spielt. Man könnte den Text als eine Synthese von Demokrit und Epikur auffassen, indem mittels des „abstrakten Selbstbewusstseins“ à la Epikur die „Naturform“ der Atome erklärt werden kann, während das „empirische Selbstbewusstsein“ im Sinne von Demokrit die „konkrete Natur“ erkennt. Wörtlich genommen würde der Text allerdings eine sehr rätselhafte Aussage ergeben, nämlich, dass „das Atom nichts als die Naturform des abstrakten […] Selbstbewußtseins ist“, während „die sinnliche Natur nur das vergegenständlichte empirische […] Selbstbewußtsein“ darstellt.

Für Armin Wildermuth ist die Marxsche Apotheose des „Selbstbewusstseins“ das gerade „Gegenteil von dem, was wir als den Kern der Hegelschen Konzeption des Selbstbewusstseins erkannten.“[30]Wildermuth 1970, S. 47. Es handele sich bei diesem Konzept um die Bauersche Umdeutung der Hegelschen Vorstellung.

„Sicher aber ist, dass die Bauersche Philosophie des Selbstbewusstseins ein ganz wesentliches Element in der Marxschen Genese bedeutet. Sie gab Marx das erste Werkzeug in die Hand, mit dem er Hegel umzuinterpretieren vermochte. Noch nicht zu ihrem Ende gebracht, war gerade diese Bauersche Philosophie ihrerseits ein Werdendes, ja vielleicht bloss ein Denkentwurf, dessen Stärke aIlein in seiner Beweglichkeit, in seiner inneren Unruhe und offenbaren Unvollendung bestand.“[31]Ebd., S. 58.

Michael Heinrich hat die verschiedenen Standpunkte, inwieweit das „Selbstbewusstsein“ bei Marx auf der Bauerschen Philosophie beruhte, dargestellt und dann folgende Resümee gezogen:

„Das Konzept des Selbstbewusstseins […] verdrängte den absoluten Geist mit seinen theologischen Ambivalenzen aus seiner zentralen Position“.
„Was die Geschichte antreibt, ist nicht die Bewegung einer abstrakt-allgemeinen Vernunft, dieser Antrieb wurde unmittelbar in den Menschen selbst verlagert.“[32]Heinrich 2018, S. 357 f.

Allerdings blieb dieser mittels des Begriffs Selbstbewusstsein erfasste Mensch noch weitgehend abstrakt, das Selbstbewusstsein war nur der erste Schritt dieser nachhegelschen Aufklärung.“[33]Ebd., S. 359.

Wie wir schon gesehen hatten, war ja für Marx damals „das menschliche Selbstbewußtsein“ die „oberste Gottheit“.[34]Marx: Dissertation, S. 262.

Im  5. Kapitel[35]Ebd., S. 297 ff. behandelt Marx nun die Ansichten von Epikur über die „Meteore“, womit die Himmelskörper gemeint sind:

„Dagegen Epikurs Theorie von den Himmelskörpern […] steht im Gegensatz nicht nur zur Meinung Demokrits, sondern zur Meinung der griechischen Philosophie. Die Verehrung der Himmelskörper ist ein Kultus, den alle griechischen Philosophen feiern. Das System der Himmelskörper ist die erste naive und naturbestimmte Existenz der wirklichen Vernunft. Dieselbe Stellung hat das griechische Selbstbewußtsein im Reich des Geistes. Es ist das geistige Sonnensystem. Die griechischen Philosophen beteten daher in den Himmelskörpern ihren eigenen Geist an.“[36]Ebd., S. 298.

Dagegen schließt Epikur:

Weil die Ewigkeit der Himmelskörper die Ataraxie [Seelenruhe, RS] des Selbstbewußtseins stören würde, ist es eine notwendige, stringente Konsequenz, daß sie nicht ewig sind.“[37]Ebd., S. 301.„Das Atom ist die Materie in der Form der Selbständigkeit, der Einzelheit, gleichsam die vorgestellte Schwere. Die höchste Wirklichkeit aber der Schwere sind die Himmelskörper. In ihnen sind alle Antinomien zwischen Form und Materie, zwischen Begriff und Existenz, die die Entwickelung des Atoms bildeten, gelöst, in ihnen alle Bestimmungen, die gefordert wurden, verwirklicht. […]
Die Himmelskörper sind also die wirklich gewordenen Atome.“[38]Ebd., S. 302.

Und Marx fährt fort:

„Epikur fühlt daher, daß seine frühern Kategorien hier zusammenbrechen, daß die Methode seiner Theorie eine andere wird. Und es ist die tiefste Erkenntnis seines Systems, die durchgedrungenste Konsequenz, daß er dies fühlt und bewußt ausspricht.
Wir haben nämlich gesehen, wie die ganze epikureische Naturphilosophie durchströmt ist von dem Widerspruch zwischen Wesen und Existenz, zwischen Form und Materie. In den Himmelskörpern aber ist dieser Widerspruch ausgelöscht, sind die widerstreitenden Momente versöhnt. In dem zölestischen System hat die Materie die Form in sich empfangen, die Einzelheit in sich aufgenommen und so ihre Selbständigkeit erreicht. Auf diesem Punkt aber hört sie auf, Affirmation des abstrakten Selbstbewußtseins zu sein. In der Welt der Atome, wie in der Welt der Erscheinung, kämpfte die Form mit der Materie; die eine Bestimmung hob die andere auf, und gerade in diesem Widerspruch fühlte das abstrakt-einzelne Selbstbewußtsein seine Natur vergegenständlicht. Die abstrakte Form, die mit der abstrakten Materie unter der Gestalt der Materie kämpfte, war es selbst. Jetzt aber, wo die Materie sich mit der Form versöhnt hat und verselbständigt ist, tritt das einzele Selbstbewußtsein aus seiner Verpuppung heraus und ruft sich als das wahre Prinzip aus und befeindet die selbständig gewordene Natur.“[39]Ebd., S. 303.

Und so ruft Marx aus:

„Epikur ist daher der größte griechische Aufklärer“.

Und zieht am Ende seiner Arbeit das folgende Resümee:

„Der Unterschied zwischen demokritischer und epikureischer Naturphilosophie, den wir am Schlusse des allgemeinen Teils aufgestellt, hat sich in allen Sphären der Natur weiterentwickelt und bestätigt gefunden. Bei Epikur ist daher die Atomistik mit allen ihren Widersprüchen als die Naturwissenschaft des Selbstbewußtseins, das sich unter der Form der abstrakten Einzelheit absolutes Prinzip ist, bis zur höchsten Konsequenz, welches ihre Auflösung und bewußter Gegensatz gegen das Allgemeine ist, durchgeführt und vollendet. Dem Demokrit dagegen ist das Atom nur der allgemein objektive Ausdruck der empirischen Naturforschung überhaupt. Das Atom bleibt ihm daher reine und abstrakte Kategorie, eine Hypothese, die das Resultat der Erfahrung, nicht ihr energisches Prinzip ist, die daher ebensowohl ohne Realisierung bleibt, wie die reale Naturforschung nicht weiter von ihr bestimmt wird.“[40]Ebd., S. 305.

Wir wiederum können resümieren, dass Marx in seiner Dissertation das menschliche Selbstbewusstsein in der Natur wirken und verwirklicht sah, wie er es am Beispiel der Naturphilosophie des Epikur glaubte zeigen zu können. Er hatte das abstrakte „menschliche Selbstbewußtsein“ zu einer Gottheit erhoben und schon dadurch Hegel vom „Kopf […] auf die Füße gestellt.“[41]Engels: Feuerbach, S. 293. Bei Engels bezog sich diese Bemerkung ja darauf, dass Marx den dialektischen Idealismus Hegels in den dialektischen Materialismus verwandelt hatte. Aber schon in der … Continue reading Eine rein spekulative Betrachtung, über deren Kultivierung ihres Erfinders, Bruno Bauer, Marx in der „Heiligen Familie“ wenige Jahre später so sehr wettern sollte.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 S.a. Wolfgang Bialas: „Frühschriften“ in HKWM, Band 4, Sp. 1050-1063. Viele der Frühschriften wurden erstmals vollständig in den Jahren 1927 bis 1932 im Rahmen der ersten MEGA veröffentlicht. „Die Veröffentlichung bedeutete eine Sensation für die marxistischen Intellektuellen mit Ausstrahlung weit über deren Kreis hinaus. Zumal das Erscheinen der MS 44 [Marx: Manuskripte von 1844] ‚schlug […] wie eine Bombe ein, so unerwartet war […] der große theoretische Reichtum dieses Werkes’“. (so N. I. Lapin in seinem Werk ‚Der junge Marx’, das 1974 in der DDR erschien; hier zitiert nach HKMW, Band 4, Sp. 1050). Selbst bei dem katholischen Sozialethiker von Nell-Breuning spürt man noch die ungeheure Wirkung dieser Werke, wenn er schreibt: „Hatte man bis dahin nur den grimmigen Kämpfer und Hasser, den eiskalten Denker […] gekannt, so lernte man zu seiner Überraschung jetzt einen anderen, ganz von Menschlichkeit bestimmten Marx kennen, einen Mann, dem es um den Menschen ging, um die Menschenwürde und die menschenwürdige Behandlung eines jeden, der Menschenantlitz trägt. Dieser Marx, der „junge Marx“, wirkte anziehend und gewinnend“ (Nell-Breuning 1969, S. 82.). Ich kann diese Einschätzungen durchaus nicht nachvollziehen und empfinde die Frühschriften von Karl Marx eher als besonders freiheits- und menschenfeindlich. Doch dazu werden wir bei der Behandlung der entsprechenden Schriften kommen. Die Dissertation ist hiervon noch völlig unbelastet. Darin geht es „nur“ um philosophische Fragen.
2 Karl Marx: „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange.“ In: MEW 40, S. 257-373 (im folgenden zitiert als Marx: Dissertation). „Marx‘ eigenhändig geschriebenes Manuskript der Dissertation ist verschollen. Erhalten geblieben ist nur eine wahrscheinlich nach der Promotion von einem unbekannten Kopisten wohl für die geplante Drucklegung hergestellte unvollständige Abschrift, die mit Korrekturen, Einschaltungen und Zusätzen von Marx‘ Hand versehen ist.“ (Ebd., S. 664, Anm. 31). Vorangestellt war die Widmung: „Seinem teuern väterlichen Freunde, dem Geheimen Regierungsrate Herrn Ludwig von Westphalen [der Vater seiner späteren Gattin, RS] zu Trier widmet diese Zeilen als ein Zeichen kindlicher Liebe der Verfasser“ (ebd., S. 259). Er schrieb die Arbeit in den Jahren 1840/41 (ebd., S. 258), wobei er von Bruno Bauer betreut wurde, der ihn auch drängte, die Arbeit abzuschließen und in Jena einzureichen, weil dort kein persönliches Erscheinen verlangt wurde (siehe zu den Gründen auch Heinrich 2018, S. 359 ff.). Am 6. April 1841 reichte Marx sie bei der Philosophischen Fakultät der Universität Jena ein und wurde bereits am 15. April 1841 in absentia zum Doktor der Philosophie promoviert (ebd., S. 664, Anm. 31). Eine geplante Veröffentlichung unterblieb zu seinen Lebzeiten (ebd., Anm. 32). Der eigentlichen Arbeit gingen umfangreiche Exzerpte der einschlägigen Schriften in sieben Heften voraus (s. MEW 40, S. 13-255). Für Andreas Vieth handelt es sich „– im Gegensatz zu vielen geisteswissenschaftlichen Dissertationen bis weit in das 20. Jh. – um eine moderne wissenschaftliche Arbeit. Denn sie enthält bereits einen Fußnotenapparat und verfügt über klare Methoden des Zitierens und Belegens“ (Marx-Handbuch 2016, S. 32). Diese Arbeitsweise sollte Marx bis hin zum „Kapital“ in geradezu vorbildlicher Weise vervollkommnen. Zur Vorgeschichte seiner Dissertation, möglichen Plänen und deren Änderungen siehe Heinrich 2018, S. 340 f.
3 Dieser Frage wird in dem Beitrag „Marx – der große Projektemacher“ nachgegangen werden.
4 Der reine Text mit Vorrede und Inhaltsverzeichnis umfasst 45 Seiten (allerdings fehlen Teile des Textes). Es folgen drei Seiten Fragmente aus dem Anhang: „[Kritik der plutarchischen Polemik gegen Epikurs Theologie]“ (es hat sich später herausgestellt, das dieses Fragment nicht Bestandteil seiner Doktorarbeit war; s. Heinrich 2018, S. 339) und 64 Seiten Anmerkungen (wobei hier alle Seiten doppelt erscheinen; einmal im Original, das oft griechisch ist, und dann in der deutschen Übersetzung). Ohne die verdoppelten Seiten macht dies insgesamt 80 Seiten.
5 Teile der Arbeit wurden im Jahre 1902 erstmals von Franz Mehring veröffentlicht. „Eine vollständige Fassung des erhaltenen Manuskriptes […] veröffentlichte David Rjazanov 1927 in der ersten MEGA. […] Aber erst für die Publikation in der zweiten MEGA im Jahre 1976 konnten eine Reihe von Entzifferungsfehlern […] beseitigt werden.“ (Heinrich 2018, S. 340).
6 Marx: Dissertation, S. 261. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Marx umfangreiche Veröffentlichungen ankündigte. In den meisten Fällen kam er aber nie dazu, sich intensiver mit dem jeweiligen Thema zu beschäftigen.
7 So auch die Einschätzung der Verfasser des Vorwortes des 40. Bandes der Marx-Engels-Werke, verfasst vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (MEW 40, S. XI).
8 Heinrich 2018, S. 353.
9, 34 Marx: Dissertation, S. 262.
10 Weshalb Bruno Bauer auch von diesem Zitat abgeraten hatte (Brief an Marx von Anfang April 1841 (MEGA III/1, S. 357 f.; s.a. Heinrich 2018, S. 340).
11 Marx: Dissertation, S. 261.
12 Ebd., S. 262.
13 Marx: Dissertation, S. 261 f.
14 Marx: Dissertation, S. 270; s.a. ebd., S. 266.
15 Ebd., S. 271.
16 Ebd., S. 273.
17 Ebd., S. 274.
18 Ebd., S. 277.
19 Ebd., S. 278 ff.
20 Interessanterweise hat ja die vorherrschende Deutung der Quantenphysik den „objektiven Zufall“ wieder in Amt und Würden eingesetzt. Es gibt auch hier Philosophen, die dies als Grundlage der menschlichen Freiheit deuten wollen.
21 Ebd., S. 285 ff.
22 Ebd., S. 287 f.
23 Marx: Dissertation, S. 288.
24 Ebd., S. 289.
25 Ebd., S. 290 ff.
26 Ebd., S. 293.
27 Ebd., S. 294 ff.
28 Ebd., S. 296.
29 Ebd., S. 297.
30 Wildermuth 1970, S. 47.
31 Ebd., S. 58.
32 Heinrich 2018, S. 357 f.
33 Ebd., S. 359.
35 Ebd., S. 297 ff.
36 Ebd., S. 298.
37 Ebd., S. 301.
38 Ebd., S. 302.
39 Ebd., S. 303.
40 Ebd., S. 305.
41 Engels: Feuerbach, S. 293. Bei Engels bezog sich diese Bemerkung ja darauf, dass Marx den dialektischen Idealismus Hegels in den dialektischen Materialismus verwandelt hatte. Aber schon in der Frage  des „Selbstbewusstseins“ hatten das Duo Bauer/Marx Hegel auf den Kopf gestellt, denn Hegel hatte ja das menschliche Selbstbewusstsein als die Selbsterkenntnis des „Logos“ angesehen und keineswegs als etwas Autonomes. Aus dem „göttlichen“ „Logos“ von Hegel hatten die beiden das „göttliche“ „menschliche Selbstbewusstsein“ gemacht.