Diskussionsbeitrag zum Stichwort „Niederlage“ für das „Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus“ von Reinald Schröder

Der folgende Text ist ein Diskussionsbeitrag zu dem Entwurf des Stichwortes „Niederlage“ für das „Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus“ (HKWM)[1]Das „Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus“ (HKWM) ist ein Monumentalwerk, das im Jahre 1983, anlässlich des hundertsten Todestages von Karl Marx, von Wolfgang Fritz Haug ins Leben … Continue reading von Victor Strazzeri.[2]Das Stichwort ist vorgesehen für den Band 10. Die Diskussion dieses Entwurfes fand am 10. November 2021 online statt.

Die größte Niederlage des Marxismus ist meiner Meinung nach eine theoretische, und sie besteht darin, dass die zentrale – nach Ansicht ihrer Schöpfer wissenschaftlich fundierte – Vorhersage von Marx und Engels in über 170 Jahren nicht eingetroffen ist und auch keinerlei Aussicht besteht, dass dies in nächster Zeit geschehen wird. Dass nämlich der Kapitalismus in den entwickelten Industrienationen durch eine Revolution des Proletariats beseitigt und an seine Stelle eine klassenlose Gesellschaft treten wird, in der das Privateigentum und damit auch die Warenproduktion abgeschafft werden, so dass der Staat schließlich absterben kann.[3]Siehe z.B. Marx, Engels: „Manifest der kommunistischen Partei“ (MEW 4, S. 481 f.). Zu den Revolutionsvorstellungen von Marx und Engels im Kommunistisches Manifest siehe auch Thomas Marxhausen in … Continue reading

Es hat in den fast 175 Jahren seit der Veröffentlichung des „Kommunistischen Manifestes“ im Jahre 1848, in dem sich diese Prophezeiungen finden,[4]Die Vorstellung einer kurz bevorstehenden proletarischen Revolution in England durchzieht die Veröffentlichungen insbesondere von Engels seit seinen ersten Artikeln in der „Rheinischen Zeitung“ … Continue reading keine einzige proletarische Revolution in einem entwickelten Industrieland gegeben. Selbst die Pariser Kommune war im Gegensatz zu den Aussagen von Marx und Engels keine Diktatur des Proletariats. Ganz einfach deswegen, weil es 1871 in Paris kein Proletariat in nennenswertem Umfang gab und weil unter den Führungskräften der Kommune auch kaum Proletarier – also Arbeiter aus einem großen Industriebetrieb – vertreten waren – allenfalls Handwerker und Selbstständige.[5]Es wurden überproportional viele Intellektuelle, insb. Journalisten und Rechtsanwälte, in die Führungsgremien der Pariser Kommune gewählt. Auch etliche Berufssoldaten waren vertreten. Personen, … Continue reading Es war noch nicht einmal eine richtige Diktatur, verglichen mit dem blutigen Terror, den die Jakobiner nach der Französischen Revolution ausübten.

Kurz vor seinem Tod hat Engels eingeräumt, dass Marx und er sich in der Erwartung einer baldigen proletarischen Revolution einer Illusion hingegeben hätten, indem er schrieb: „Die Geschichte hat aber auch uns unrecht gegeben, hat unsere damalige Ansicht als eine Illusion enthüllt.“[6]Friedrich Engels: „Einleitung [zu Karl Marx’ ‚Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850’ (1895)]“, in: MEW 22, S. 513. Engels fügte hinzu, dass die „Geschichte“ […] „uns […] klargemacht“ hat, „daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“.[7]Ebd., S. 515.

Wieso sie dieser Illusion erliegen konnten, hat er nicht mehr ernsthaft untersuchen können. Lag es an Wunschdenken? Denn Beiden hätte eigentlich klar sein müssen, dass Deutschland, wie die meisten anderen europäischen Staaten – mit Ausnahme von Großbritannien –, in den 1850er und 1860er Jahren alles andere war als ein entwickeltes Industrieland, in dem die proletarische Revolution auf der Tagesordnung stand[8]So heißt es im „Kommunistischen Manifest“: „Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht und weil […] … Continue reading – es war noch ein überwiegend agrarisches Land. Erst ab 1890 gewannen Industrie und Handwerk langsam die Überhand gegenüber der Landwirtschaft. Die Ursachen dieser Fehleinschätzung von Marx und Engels sind aus meiner Sicht auch später selten ernsthaft untersucht worden, vielleicht mit Ausnahme von Eduard Bernstein, der dies auf die Einflüsse von Hegel und Blanqui auf Marx und Engels zurückgeführt hat.[9]Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. 1899. Zweites Kapitel. Der Marxismus und die Hegelsche Dialektik, b) Marxismus und Blanquismus.

Die Revolutionen des 20. Jahrhunderts, an denen Proletarier in großer Zahl beteiligt waren, verliefen in den meisten Fällen relativ unblutig – zumindest, wenn sie erfolgreich waren, führten aber in keinem Fall zu einer wie auch immer gearteten Herrschaft des Proletariats, sondern immer nur zu kapitalistisch-demokratischen Zuständen. Der Barrikadenkampf war durch die Entwicklung der Militärtechnik und des veränderten Charakters der Armeen obsolet geworden, wie Engels es gegen Ende seines Lebens auch schon geahnt hatte.[10]Friedrich Engels: „Einleitung [zu Karl Marx’ ‚Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850’ (1895)]“, in: MEW 22, S. 521 und 525. Stattdessen fanden nun erfolgreiche Revolutionen dann statt, wenn die Armee ihren Einsatz gegen die Massen verweigerte oder wenn die Revolution sogar von ihr ausging. So war es bei Russlands demokratischer Februar-Revolution (1917) und der Novemberrevolution in Deutschland (1918) und in vielen anderen Ländern.[11]Weder die Februarrevolution noch die Oktoberrevolution in Russland im Jahre 1917 war eine proletarische Revolution in einem entwickelten Industrieland, wie sie Marx und Engels vorschwebte. Die … Continue reading Auch der Zusammenbruch der staatssozialistischen Staaten Osteuropas, der von der Gewerkschaftsbewegung in Polen seinen Ausgang nahm, wurde durch eine relativ unblutige Revolution herbeigeführt, ermöglicht durch die Weigerung der Sowjetunion, militärische Einsätze in den Bruderländern mit dem Zweck, Volksaufstände zu unterdrücken, durchzuführen.

Aus meiner Sicht gibt es nur zwei mögliche Erklärungsmöglichkeiten für diese Irrtümer von Marx und Engels. Entweder ist ihre Theorie grundsätzlich falsch und damit für die Erklärung der kapitalistischen Gesellschaft und die Vorhersage der zukünftigen Entwicklung unbrauchbar. Oder Marx und Engels haben fehlerhafte Schlüsse aus im Grunde richtigen Grundannahmen gezogen.

Zentral für das Stichwort „Niederlage“ ist nach meiner Meinung auch die Frage, was denn eine Niederlage war und was ein Sieg: war der Arbeiteraufstand in der DDR im Jahre 1953 die Niederlage oder dessen Niederschlagung? War der Volksaufstand in Ungarn drei Jahre später eine Niederlage oder ein Erfolg der Arbeiterbewegung? Und war der Prager Frühling ein Sieg der Marxisten oder war es die Niederschlagung durch die Armeen des Warschauer Paktes? Und schließlich: war die Oktoberrevolution eine schwere Niederlage der Arbeiterbewegung, wie Bernstein, Kautsky und letztlich auch Rosa Luxemburg[12]Rosa Luxemburg hat zwar die Oktoberrevolution begrüßt, aber auf der anderen Seite so fundamentale Kritik daran geübt, dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass die Oktoberrevolution … Continue reading meinten, oder war der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks eine Niederlage?

Meiner Meinung nach war die Machtergreifung der Bolschewisten[13]Wolfgang Fritz Haug stellt fest: „Der ins Objektivistische vereinseitigte M[arxismus] wurde zur Begleitmusik entgegengesetzter Irrwege: des sozialdemokratischen Abwartens (Attentismus) und der … Continue reading und die Abschaffung aller demokratischen Verhältnisse in einem Russland, in dem gerade der Zar durch eine demokratische Revolution gestürzt worden war, eine große und tragische Niederlage der Arbeiterbewegung, die weitere Niederlagen bis in die Gegenwart zur Folge hatte. Auf keinen Fall aber war es eine proletarische Revolution. Die anschließende Herrschaft der Partei war auch keineswegs eine Diktatur des Proletariats.

Spätestens die Machtergreifung Stalins wird ja auch im HKWM als schwere Niederlage dargestellt, da sie zur Unterdrückung und Ausbeutung nicht nur der Arbeiter geführt hat.[14]So spricht Haug von „den Rasereien des stalinistischen Staatsterrorismus.“ (Ebd., Sp. 1866). Nach Haug „rückt schließlich [nach Gorbatschow, RS] die für die Zukunftsfähigkeit des M[arxismus] entscheidende Frage nach einer marxistischen Erklärung des Stalinismus auf die Tagesordnung.“[15]Ebd., Sp. 1865. Denn Haug ist der Meinung, dass der Stalinismus ein Bruch mit der Theorie von Marx, Engels und Lenin darstellt.[16]Ebd., Sp. 1866. Auch Marcel Bois ist der Meinung, dass durch Stalin die Pläne der Revolutionäre von 1917 in ihr „Gegenteil verkehrt“ wurden.[17]Ebd., Sp. 1180 – „Linkskommunismus“.

Nach meinem Kenntnisstand ist diese Frage noch nicht befriedigend beantwortet. Man muss aber auch fragen, woran es lag, dass Staaten, in denen eine kommunistische Partei herrscht, sich so leicht in Diktaturen nicht des Proletariats und nicht der kommunistischen Partei, sondern von einzelnen Despoten oder kleinen Cliquen verwandeln konnten.

Dies hängt meiner Meinung nach mit dem theoretischen Rückfall in voraufklärerische Zeiten durch die Staatstheorie von Marx und Engels zusammen. Sie hatten dazu nicht mehr zu sagen, als dass der sozialistische Staat das Privateigentum abschaffen und die Marktgesetze außer Kraft setzen muss, indem das Proletariat – nach Meinung der Beiden die große Mehrheit der Bevölkerung – eine Diktatur errichten und die Gewaltenteilung aufheben muss. Weitere Gedanken, wie das aussehen soll und wie man eine Machtergreifung Einzelner verhindern kann, machten sie sich nicht, weil der Staat ja sowieso nach kurzer Zeit absterben würde.[18]So Karl Marx in seinem Pamphlet „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, in MEW 17, S. 339 f. Siehe dazu auch das Stichwort „Diktatur des Proletariats“ in HKWM Band 2, Spalte 720. Meiner Meinung nach ist schon der Begriff „Diktatur“ für die Herrschaft der „riesige[n] Mehrheit des Volkes“ sehr bedenklich, selbst wenn sie der „gewaltsame[n] Niederhaltung der Ausbeuter“[19]Lenin im Jahre 1917, zitiert nach HKWM Band 2, Spalte 721 – „Diktatur des Proletariats“. dienen soll. Denn damit ist der rechtsstaatliche Schutz der Minderheit von vornherein ausgeschlossen. Und wie sich schon in der Anfangszeit der bolschewistischen Herrschaft zeigen sollte, geht dann auch der rechtsstaatliche Schutz der Mehrheit verloren. Ja, es kann sich sogar eine Minderheit, wie es die Bolschewiki ja in allen noch relativ frei gewählten Gremien waren, zur „Mehrheit“ aufschwingen, indem die Vertreter der Mehrheit ausgeschlossen werden und damit eine Diktatur der Minderheit über die Mehrheit errichtet wird.

Etliche Staatstheoretiker hatten sich zuvor ja schon viele Gedanken darüber gemacht und auch Ideen entwickelt, wie man dies verhindern könnte. So z.B. durch Gewaltenteilung oder „checks and balances“ – alles Mechanismen die die Macht Einzelner und selbst die der Mehrheit begrenzen sollen. Und die sich in den USA bei den Versuchen des Möchtegern-Despoten Donald Trump, sich mehr Macht anzueignen und einen Staatsstreich durchzuführen, sehr bewährt haben. Dies aber hielten Marx und Engels für Ausprägungen der Diktatur der Bourgeoise und damit für abschaffenswert. Die bisher erschienenen Bände des HKWM sind ja voll von Beiträgen über die diesbezüglichen tragischen Verirrungen der Marx-Epigonen. Wenn diese Verirrungen aber immer wieder geschehen, dann muss es ja irgendwelche Gründe dafür geben, die in den Verhältnissen oder im Marxismus selber begründet sind und die herausgefunden werden müssen, um solche Niederlagen in Zukunft zu vermeiden.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Analyse der Theoretiker im Umfeld von Gorbatschow, die die Überlegung anstellten, dass eine Ursache für die fehlende Freiheit in der Sowjetunion das Fehlen von Privateigentum sein könnte.[20]HKWM, Band 2, Sp. 130 f. – „befehlsadministratives System“. Dies ist ein Versuch, eine materialistische Analyse des Scheiterns zu liefern. Und dieser Gedanke ist zumindest überlegenswert. Er passt zu der historischen Tatsache, dass, seit es Klassengesellschaften gibt, keine Gesellschaft bekannt ist, in der – und wenn auch nur für eine Minderheit – Freiheiten und Demokratie existierten, wenn es in der Gesellschaft kein Privateigentum gab. Die Abschaffung des Privateigentums war aber eine sine qua non einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft für Marx und Engels. Wenn deren Abschaffung aber tatsächlich für die fehlende Freiheit und Demokratie in der Sowjetunion zumindest mitverantwortlich war, dann waren mittelbar natürlich auch Marx und Engels durch ihre Theorie dafür verantwortlich.

Den Zusammenbruch der realsozialistischen Länder, der durch die „Revolution“ der Arbeiter in Polen angestoßen wurde, muss man meiner Ansicht nach als einen der größten Siege der Arbeiterbewegung ansehen. Zwar handelte es sich nicht um marxistische Revolutionen und im Anschluss wurde in fast allen Länder ein marktwirtschaftlich orientierter Kapitalismus eingeführt, aber die extreme Form der Ausbeutung und Unterdrückung in den staatssozialistischen Ländern war beendet. Und „für den Marxismus“ bedeuteten die Umbrüche von 1989 „die Befreiung aus den Fesseln dogmatischer Erstarrung“, wie Wolfgang Küttler schreibt.[21]HKWM, Band 8/II, Sp. 1962 – „Marxismus Lenins“.

In diesem Zusammenhang ist auch zu klären, was denn das Kriterium für Sieg resp. Niederlage ist? Der Fortschritt? Die Erreichung der klassenlosen Gesellschaft? Verbesserte Lebensbedingungen?

Da im HKWM ja nicht so sehr die eigene Analyse im Vordergrund steht, sondern die Interpretationen durch die unterschiedlichen Strömungen im Marxismus, können natürlich viele Ereignisse sowohl als Sieg als auch als Niederlage betrachtet werden. Je nachdem, welche Richtung des Marxismus jeweils obsiegt hat. Denn viele schwere Niederlagen haben Marxisten ja anderen Marxisten beigebracht.

Ebenfalls zu untersuchen wäre die Frage, inwieweit die Ansichten von Marx und Engels zu Niederlagen der Arbeiterbewegung beigetragen haben. Ich will das hier nur an einer der – wohl unstrittig – schwersten Niederlage der Arbeiterbewegung näher betrachten: die Bewilligung der Kriegskredite durch rechte und linke SPD-Reichstagsabgeordnete 1914.[22]Zum 1. WK und zur Oktoberrevolution, Luxemburg etc. siehe HKWM, 8/II, Sp. 1863 ff. – „Marxismus“.

Marx und Engels hatten August Bebel und Wilhelm Liebknecht im Jahre 1870 intern sehr scharf kritisiert, weil sie die Zustimmung zu den Kriegskrediten im deutsch-französischen Krieg verweigert und sich der Stimme enthalten hatten.[23]S. dazu den Briefwechsel zwischen Marx und Engels aus dem August 1870, in MEW 33, S. 37 ff. Namentlich die Kritik an Wilhelm Liebknecht, dem Verbindungs- und Gewährsmann der beiden in London … Continue reading Nach Meinung von Marx und Engels war dies ein gerechter Verteidigungskrieg, weil Frankreich den Krieg begonnen hatte. Ein gerechter Krieg sei es, so lange keine Annexionen geplant seien.[24]Siehe dazu Karl Marx: „Erste Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg“, in MEW 17, S. 5 und 6. Ein weiterer Grund, warum Marx den deutsch-französischen Krieg begeistert begrüßte, war seine Annahme, dass sie zur Schwächung der französischen Arbeiterbewegung führen würde, wodurch die deutsche – marxistische – die Hegemonie übernehmen könnte. Eine Einschätzung, die sich in der Tat bewahrheiten sollte.[25]So hatte Marx den deutsch-französischen Krieg mit den Worten begrüßt: „Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so die Zentralisation der State power nützlich der Zentralisation der … Continue reading

Außerdem setzten Marx und Engels ihr ganzes Leben lang große Hoffnungen auf einen Krieg Preußens oder später Deutschlands gegen Russland. Durch diesen Krieg würde „das spezifische Preußentum“ zerbrechen und zudem würde er eine „sozialen Revolution in Rußland“ bewirken.[26]So hielt Marx es für das „beste Resultat“ des deutsch-französischen Krieges, dass er „notwendig zu Krieg zwischen Deutschland und Rußland“ führen müsse, denn „das spezifische … Continue reading

So hatten Marx und Engels den Sozialdemokraten, die 1914 für die Kriegskredite stimmten, die Argumente geliefert: nämlich dass es sich um einen gerechten Verteidigungskrieg gegen das reaktionäre Russland handeln würde.

Eine weitere interessante Frage ist, inwieweit die Revolutionäre selber verantwortlich sind für ihre Niederlagen.

Das beste Beispiel für eine selbstverschuldete Niederlage ist die Pariser Kommune, die ja von vornerein zum Scheitern verurteilt war. Denn dass eine Revolution in einer Stadt, die von den völlig überlegenden Armeen des Feindes, der das Land gerade besiegt hat, umzingelt ist, siegen kann, ist jedenfalls nicht sehr wahrscheinlich. Zumal dann nicht, wenn davon auszugehen ist, dass man auch die geschlagene, aber immer noch überlegende französische Armee zum Feinde haben würde. Die Niederlage hätte auch durch die von Marx und Engels im Nachhinein vorgeschlagenen Maßnahmen (Verstaatlichung der Nationalbank,[27]Friedrich Engels: Einleitung [zu „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ von Karl Marx (Ausgabe 1891)], in MEW 17, S. 622. Angriff auf Versailles[28]Karl Marx: „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, in MEW 17, S. 333.) kaum abgewendet werden können.

An diesem Beispiel wird zudem ein weiteres Charakteristikum des angewandten Marxismus deutlich. Die Tatsache, dass der Marxismus wesentlich mehr Energie aus Niederlagen denn aus Siegen saugen kann. Die bei Marx und Engels und ihren Epigonen notorische Bewertung von Niederlagen als der Vorbote des bevorstehenden Sieges, ist aber auch ein Zeichen für die Wirklichkeitsferne der Beiden und späterer Marxisten.

Und Marx hat es verstanden, sogar aus Niederlagen Kapital zu schlagen, an denen er wenig Anteil hatte, wie eben bei der Niederlage der Pariser Kommune, an der ja nur in ganz geringem Maße Anhänger von ihm beteiligt waren. Die meisten Kommunarden waren Anhänger von Blanqui und Proudhon, wie Engels selbst feststellte.[29]So Friedrich Engels in seiner Einleitung [zu „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ von Karl Marx (Ausgabe 1891)], in MEW 17, S. 622.

Eine der größten Niederlagen der Arbeiterbewegung war ja die Machtübergabe an die Nationalsozialisten im Jahre 1933. Hierzu verweist Theodor Bergmann sich selbst zitierend „auf die negative Leistung der großen Organisationen SPD, ADGB, KPD, die die Katastrophe von 1933 nicht nur nicht verhindert haben, sondern an ihr mitschuldig waren.“[30]HKWM, Band 2, Sp. 334 – „Brandlerismus“.

Wie konnte es geschehen, dass die großen und starken Organisationen der Arbeiterklasse in Deutschland diese verheerende Niederlage nicht abwenden konnten? Oder andersherum gefragt, warum lieferten sie sich vor allem Kämpfe gegen- und miteinander?

Auch wenn der Ukrainekrieg für das HKWM sicherlich noch viel zu aktuell ist, wäre es doch auch sehr lohnend zu untersuchen, wie es eigentlich geschehen konnte, dass viele Menschen in Deutschland, die sich als Marxisten verstehen, sich so sehr in Putin und dem Charakter Russlands täuschen konnten. Daniel Marwecki hat dies in aller wünschenswerten Klarheit auf der Seite der „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ mit folgenden Worten beschrieben: „Der russische Angriff ist lupenreiner Imperialismus – Imperialismus, über den Menschen in Syrien, in Tschetschenien, in Georgien und in vielen Teilen Osteuropas in diesen Tagen deutlich weniger überrascht sind als große Teile der deutschen Gesellschaft und mit ihr der deutschen Linken.“

Dabei sind doch die Analysen von Marx und Engels über das Zarenreich bezogen auf das heutige Russland sehr zutreffend und aktueller denn je. Wie schon zur Zeit der Beiden ist Russland heute ein imperiales Land und der Hort der Reaktion in Europa, das viele Freiheitsbewegungen in benachbarten Ländern unterdrückt (Tschetschenien, Georgien, Syrien, Kasachstan, Belarus, Ukraine etc.) und auch im Inneren ein extrem undemokratisches Unterdrückerregime installiert hat. Es ist ein „Koloss auf tönernen Füßen“, der aber beim Sturz noch allerhand Unheil anrichten kann. Wenn man seinen Marx richtig gelesen hätte, hätte man Putin von Anfang an als Erzreaktionär auf das schärfste bekämpfen und die Abhängigkeiten von Russland, die die deutsche Bourgeoisie aus Profitgründen z.B. im Energiebereich geschaffen hat, entschieden anprangern müssen.

Oder fungiert der angewandte Marxismus heute in weiten Teilen hauptsächlich als eine Rechtfertigungsideologie für reaktionäre Unterdrückerregime, wie z.B. die VR China, und trägt er damit mehr dazu bei, die Realität zu verschleiern als eine schonungslose dialektisch-materialistische Analyse der Weltlage zu liefern? Auch das wäre eine schmerzliche Niederlage!

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Das „Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus“ (HKWM) ist ein Monumentalwerk, das im Jahre 1983, anlässlich des hundertsten Todestages von Karl Marx, von Wolfgang Fritz Haug ins Leben gerufen wurde und von diesem bis heute herausgegeben wird. Bisher sind 12 Bände erschienen. Der erste Band erschien im Jahre 1994, der letzte Band (9/I; seit Band 6 erscheinen Doppelbände) im Jahre 2018. Damit ist die Edition beim Stichwort „Mitbestimmung“ angelangt.

Das HKWM ist ein unverzichtbares Nachschlagewerk für jeden, der sich intensiv mit der Entstehung und Entwicklung des Marxismus auseinandersetzen will. Hierin wird sehr detailliert jede Verästelung und Entwicklung des marxistischen Denkens und Handels beschrieben und analysiert. Allerdings werden die Theorien von Marx und Engels selber – nach meiner Meinung – noch nicht tiefgehend genug auf ihre Begrenztheit, Fehlerhaftigkeit und Widersprüchlichkeit – womit ich nicht die jeder Realitätserkenntnis notwendig innewohnende Dialektik meine – analysiert. Hierzu soll der folgende Diskussionsbeitrag zu dem Stichwort „Niederlage“ beitragen. In der Tat ist dieses Stichwort ganz zentral für das gesamte HKWM-Projekt, wie Wolfgang Fritz Haug in der Diskussion treffend bemerkt hat.

2 Das Stichwort ist vorgesehen für den Band 10. Die Diskussion dieses Entwurfes fand am 10. November 2021 online statt.
3 Siehe z.B. Marx, Engels: „Manifest der kommunistischen Partei“ (MEW 4, S. 481 f.). Zu den Revolutionsvorstellungen von Marx und Engels im Kommunistisches Manifest siehe auch Thomas Marxhausen in HKWM, Band 7/II, Spalte 1367 ff. – „Kommunistisches Manifest“.
4 Die Vorstellung einer kurz bevorstehenden proletarischen Revolution in England durchzieht die Veröffentlichungen insbesondere von Engels seit seinen ersten Artikeln in der „Rheinischen Zeitung“ im Jahre 1842. So wenn er prophezeit: Es „ist das Bewußtsein, daß eine Revolution auf friedlichem Wege eine Unmöglichkeit ist und daß nur eine gewaltsame Umwälzung der bestehenden unnatürlichen Verhältnisse, ein radikaler Sturz der adligen und industriellen Aristokratie die materielle Lage der Proletarier verbessern kann. Von dieser gewaltsamen Revolution hält sie noch die dem Engländer eigentümliche Achtung vor dem Gesetz zurück“ (MEW 1, S. 460).

Die Herausgeber der Marx-Engels-Werke schreiben zutreffend über die Revolutionsvorstellungen von Marx und Engels: „Alle Artikel von Marx und Engels, die nach dem konterrevolutionären Staatsstreich in Preußen geschrieben wurden, zeugen von der Hoffnung auf eine unmittelbar bevorstehende siegreiche proletarische Revolution in Frankreich, die zu einem neuen revolutionären Aufschwung in den Ländern Europas, darunter auch in Deutschland, geführt hätte. Dieser neue Aufschwung, so hofften Marx und Engels, sollte in Deutschland zur Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution und zum Übergang zur proletarischen Revolution führen. Dieser Gedanke, daß die bürgerlich-demokratische Revolution das Vorspiel für die sozialistische Revolution ist, wurde von den Begründern des Marxismus in der Theorie der Revolution in Permanenz auf Grund der Erfahrungen von 1848/49 entwickelt und formuliert.“ (MEW 6, S. X.)

5 Es wurden überproportional viele Intellektuelle, insb. Journalisten und Rechtsanwälte, in die Führungsgremien der Pariser Kommune gewählt. Auch etliche Berufssoldaten waren vertreten. Personen, deren Berufsbezeichnungen auf eine Tätigkeit in einem Industriebetrieb hindeuten, sind dagegen selten (siehe: Führungspersonal der Pariser Kommune).
6 Friedrich Engels: „Einleitung [zu Karl Marx’ ‚Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850’ (1895)]“, in: MEW 22, S. 513.
7 Ebd., S. 515.
8 So heißt es im „Kommunistischen Manifest“: „Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht und weil […] die deutsche bürgerliche Revolution […] nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann.“ (MEW Bd 4, S. 493).
9 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. 1899. Zweites Kapitel. Der Marxismus und die Hegelsche Dialektik, b) Marxismus und Blanquismus.
10 Friedrich Engels: „Einleitung [zu Karl Marx’ ‚Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850’ (1895)]“, in: MEW 22, S. 521 und 525.
11 Weder die Februarrevolution noch die Oktoberrevolution in Russland im Jahre 1917 war eine proletarische Revolution in einem entwickelten Industrieland, wie sie Marx und Engels vorschwebte. Die bolschewistische „Oktoberrevolution“ war sogar eher ein Staatsstreich einiger entschlossener Revolutionäre im Sinne von Blanqui als eine Revolution der Massen.
12 Rosa Luxemburg hat zwar die Oktoberrevolution begrüßt, aber auf der anderen Seite so fundamentale Kritik daran geübt, dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass die Oktoberrevolution gescheitert wäre, wenn Lenin Luxemburgs Kritik beherzigt hätte (Luxemburg lehnte die Unterdrückung andersdenkender Revolutionäre ab sowie die Landreform und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen – aus ganz plausiblen marxistischen Überlegungen heraus. Alles Dinge, ohne die die Oktoberrevolution mit sehr großer Wahrscheinlichkeit von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.) (siehe auch „Luxemburgismus“ in HKWM, Band 8/II).
13 Wolfgang Fritz Haug stellt fest: „Der ins Objektivistische vereinseitigte M[arxismus] wurde zur Begleitmusik entgegengesetzter Irrwege: des sozialdemokratischen Abwartens (Attentismus) und der bolschewistischen gewalttätigen Abkürzung der Entwicklung […].“ (HKWM, 8/II, Sp. 1848 – „Marxismus“).
14 So spricht Haug von „den Rasereien des stalinistischen Staatsterrorismus.“ (Ebd., Sp. 1866).
15 Ebd., Sp. 1865.
16 Ebd., Sp. 1866.
17 Ebd., Sp. 1180 – „Linkskommunismus“.
18 So Karl Marx in seinem Pamphlet „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, in MEW 17, S. 339 f. Siehe dazu auch das Stichwort „Diktatur des Proletariats“ in HKWM Band 2, Spalte 720.
19 Lenin im Jahre 1917, zitiert nach HKWM Band 2, Spalte 721 – „Diktatur des Proletariats“.
20 HKWM, Band 2, Sp. 130 f. – „befehlsadministratives System“.
21 HKWM, Band 8/II, Sp. 1962 – „Marxismus Lenins“.
22 Zum 1. WK und zur Oktoberrevolution, Luxemburg etc. siehe HKWM, 8/II, Sp. 1863 ff. – „Marxismus“.
23 S. dazu den Briefwechsel zwischen Marx und Engels aus dem August 1870, in MEW 33, S. 37 ff. Namentlich die Kritik an Wilhelm Liebknecht, dem Verbindungs- und Gewährsmann der beiden in London lebenden Nichtparteimitglieder in der Partei, muss man als sehr überheblich ja geradezu gehässig bezeichnen.
24 Siehe dazu Karl Marx: „Erste Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg“, in MEW 17, S. 5 und 6.
25 So hatte Marx den deutsch-französischen Krieg mit den Worten begrüßt: „Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so die Zentralisation der State power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht würde ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis jetzt in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehn, daß die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unsrer Theorie über die Proudhons etc.“ (Marx an Engels am 20. Juli 1870, MEW 33, S. 5). Und etwas später konstatierten Beide: „Dieser Krieg hat den Schwerpunkt der kontinentalen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegt. Damit haftet größere Verantwortlichkeit auf der deutschen Arbeiterklasse.“ (Marx und Engels in einem Brief an den Ausschuß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, geschrieben zwischen dem 22. und 30. August 1870 (MEW 17, S. 270); Hervorh. im Original.)
26 So hielt Marx es für das „beste Resultat“ des deutsch-französischen Krieges, dass er „notwendig zu Krieg zwischen Deutschland und Rußland“ führen müsse, denn „das spezifische ‚Preußentum’ […] kann nie anders existieren, außer in Allianz mit und in Untertänigkeit gegen Rußland. Auch wird solcher Krieg Nr. II als Hebamme der unvermeidlichen sozialen Revolution in Rußland wirken.“ (Marx an Friedrich Adolph Sorge vom 1. Sept. 1870, in MEW 33, S. 140; Hervorh. im Original). Engels grauste es dann aber 20 Jahre später vor den Folgen eines großen Krieges in Europa (Friedrich Engels: Einleitung zu Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich“, in MEW 22, S. 517).
27 Friedrich Engels: Einleitung [zu „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ von Karl Marx (Ausgabe 1891)], in MEW 17, S. 622.
28 Karl Marx: „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, in MEW 17, S. 333.
29 So Friedrich Engels in seiner Einleitung [zu „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ von Karl Marx (Ausgabe 1891)], in MEW 17, S. 622.
30 HKWM, Band 2, Sp. 334 – „Brandlerismus“.