Hinweis:

Auf dieser Seite finden sich sehr ausführliche Zitate, damit der folgende Beitrag an den Engelschen Originaltexten überprüft werden kann.

Zusammenfassung

Es war nicht die erste Arbeit, die Engels als Kommunist verfasste, aber es war die erste Arbeit, in der er die Ökonomie umfassend als Grundlage des Verständnisses der gesellschaftlichen Verhältnisse in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft benutzte. Da dies den entscheidenden Unterschied des „wissenschaftlichen Sozialismus“, wie Engels später ihre Theorie bezeichnete, gegenüber allen anderen – nach Engels „utopischen“ – sozialistischen Ansätzen ausmacht, kann dieser kleine Aufsatz mit Fug und Recht als Gründungsdokument des Marxismus angesehen werden. Engels war geradezu prädestiniert für diese Betrachtungsweise. Er war kein Philosoph, er stand als Unternehmer mit beiden Beinen im wirklichen Leben und er war Ende des Jahres 1843 seit einem Jahr Kommunist und lebte in der Welthauptstadt des Kapitalismus – in Manchester. Andererseits hatte er die philosophischen Diskussionen um Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach intensiv verfolgt, so dass es ihm gelang, die Entfremdung dem Sinne nach und sogar den Begriff des „Gattungsbewusstseins“ geschickt in seine ökonomische Argumentation einzubauen. Durch diese Einbeziehung der Junghegelianischen Philosophie gelang es Engels, Karl Marx und ein Stück weit auch Moses Heß von der Überlegenheit des ökonomischen Ansatzes zu überzeugen. Marx begann umgehend nach der Lektüre dieses Aufsatzes mit seinen ökonomischen Studien, die ihn sein Lebtag nicht mehr loslassen sollten. Nicht zu Unrecht gilt die ökonomische Analyse des Kapitalismus als der wichtigste Beitrag von Karl Marx zum Marxismus. Nachdem die beiden sich dann im August 1844 getroffen hatten und ihre Freundschaft und Zusammenarbeit damit begründet ward, überließ Engels das Thema der Ökonomie vollständig seinem neuen Freunde und unterstützte ihn auf jede erdenkliche Weise, damit er seine ökonomische Analyse abschließen konnte, woran Marx bekanntlich scheiterte.

Aber Engels’ Schrift war nicht nur grundlegend für den Marxismus, weil sie Marx den entscheidenden Anstoß gab, sich mit Ökonomie zu beschäftigen. Sie enthielt bei aller von Engels selbst eingestandenen Konfusion in der Definition der Begriffe (Wert, Produktionskosten etc.) auch schon wesentliche Bestandteile der späteren Theorie von Marx. Wie z.B. die Überproduktionskrisen, die zu einer Revolution führen müssen, nach der die Gesellschaft die Produktion kollektiv planen kann und so die kapitalistische Anarchie hinter sich lässt.

Engels stellte auch schon die These auf, dass die Industrialisierung durch den Einsatz von Maschinen und Agrochemie und die Wissenschaft eigentlich eine unbegrenzte Steigerung der Produktion für eine weiter wachsende Bevölkerung gewährleisten würde, wenn nur die kapitalistische Konkurrenz beendet wäre und die Gesellschaft die Produktion nach ihren Bedürfnissen planen könnte. Stattdessen erzeuge die kapitalistische Konkurrenz immer wieder Überproduktion – oder wie Engels hier schreibt „Überreichtum“ –, während die Arbeiter immer mehr verarmen und ihre Zahl immer größer wird, weil sich das Kapital in die Hände von immer weniger geldgierigen Spekulanten konzentriere. An diesen inneren Widersprüchen müsse der Kapitalismus notwendig zu Grunde gehen, woraus dann der Kommunismus entstünde, so Engels.

Frappierend an diesem Text ist der Hass, den Engels gegenüber der Nationalökonomie, die er als „Bereicherungswissenschaft“ beschimpft, und den Ökonomen artikuliert. Als nächstes trifft der pietistisch grundierte moralische Bannstrahl von Engels die Händler und Spekulanten. Aber zuvörderst wettert er gegen die Ökonomen und unter den Ökonomen besonders gegen Thomas Robert Malthus. Dieser hatte mit seiner Bevölkerungstheorie die Antitheorie zum Kommunismus, in dem alle Menschen friedlich und im Überfluss zusammenleben, aufgestellt. Er hatte behauptet, dass eine gestiegene Lebensmittelproduktion die Anzahl der Menschen so sehr vermehren würde, dass der Wohlstand des Einzelnen sich nicht verbessern, sondern sogar noch verschlechtern würde. So würde der Mangel nie enden und Kommunismus unmöglich. Immerhin erkannte Engels an, dass dieser „Kampf aller gegen alle“ und die zunehmende Verelendung tatsächlich für den Kapitalismus gelten würde, aber natürlich nicht für den Kommunismus, weil die Produktion viel stärker gesteigert werden könne, als die Bevölkerung. Dieser Kampf gegen Malthus sollte Marx und Engels bis an ihr Lebensende nicht mehr loslassen.

Engels irrte vollständig mit der Behauptung, dass einer immer weiter wachsenden Bevölkerung ein steigender Lebensstandard garantiert werden könne. Denn irgendwann sind die Ressourcen der Erde erschöpft. Aber er hatte immerhin recht mit der erstaunlich hellsichtigen Beobachtung, dass auf Grund der Industrialisierung für geraume Zeit die Produktion der Lebensmittel stärker steigen könne, als die Bevölkerung, so dass der Wohlstand der Menschen zunehmen würde. Dass dies aber gerade dem Kapitalismus gelingen würde, hätte Engels natürlich als absurd angesehen. Tatsächlich ist dies aber in den folgenden 180 Jahren geschehen und diese Wohlstandsvermehrung hatte den erfreulichen Effekt – den weder Engels noch Malthus geahnt hatten –, dass die Zunahme der Weltbevölkerung immer weiter abgenommen hat und in wenigen Jahrzehnten ganz zum Stillstand kommen wird.

„Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ – das Gründungsdokument des Marxismus

Kurz nachdem Moses Heß im Jahre 1842 Engels vom Kommunismus überzeugt hatte, war er nach Manchester gereist, wo er seine Ausbildung in der Firma Ermen & Engels abschließen wollte. Nach Ernst Nolte war „England […] für Engels ein Schock, eine Offenbarung und eine Herausforderung zur Selbstbehauptung.“[1]Nolte 1983a, S. 333. Er hielt sich dort zwei Jahre auf. Zwei Jahre, die einen tiefen Eindruck auf den Jungunternehmer und frischgebackenen Kommunisten ausübten. Er hatte dort direkten Einblick in die Abläufe einer kapitalistischen Textilfabrik. Er lernte die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Arbeiter in der damals am stärksten von der Industrie geprägten Stadt der Welt kennen. Hierbei half ihm eine junge Arbeiterin, die zur Liebe seines Lebens wurde, Mary Burns. Und er nahm engen Kontakt zur englischen Arbeiterbewegung auf, nahm an deren Versammlungen teil und schrieb für deren Zeitungen. Und er begann sich mit Nationalökonomie zu beschäftigen – eine Materie von der Karl Marx noch keinerlei Ahnung hatte, wie Engels später schrieb. Mit diesem Hintergrund ist es nicht sehr verwunderlich, dass Engels die Ideen von Heß anders verarbeitete als Marx. Engels ging von der ökonomischen Realität aus, was ihn ebenfalls im Glauben an die Mission des Proletariats bestärkte.[2]Er legte diese Analyse in zwei bahnbrechenden Werken vor: Engels, Friedrich: „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie.“ In: MEW 1, S. 499-524 (zukünftig zitiert als Engels: Umrisse) und … Continue reading

Marx bat Engels, einen Beitrag zum „Jahrbuch“, das er mit Arnold Ruge herausgeben wollte, zu schreiben. Dieser Bitte kam Engels, der ja ein reger Artikelschreiber war, gerne nach und sandte zwei etwa gleich lange Artikel.[3]Vor den besagten beiden Artikeln hatte Engels bereits 10 Artikel in deutschen, schweizerischen und englischen Zeitungen veröffentlicht (siehe MEW 1, S. 454-498 und MEW 41, S. 317-322). In einem setzte er sich mit der Nationalökonomie auseinander,[4]Engels: Umrisse. die er für eine „Bereicherungswissenschaft“ hielt, da sie sich weigere, den zwingenden Schluss aus ihren Erkenntnissen zu ziehen, nämlich dass die Abschaffung des Privateigentums unabdingbar sei. Es war dieser Aufsatz, der Marx nach seiner eigenen Aussage zum Studium der Nationalökonomie veranlasste. Mit den bekannten Folgen: Marx verließ nun das Feld der spekulativen Philosophie und widmete sich fortan der Ökonomie, um die Bewegungsgesetze des Kapitalismus zu ergründen. Da es ihm nicht gelang, selber für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, zwang dies Engels dazu, 20 Jahre seines Lebens die verhasste Fronarbeit in der Fabrik seines Vater in Manchester zu leisten, um den Lebensunterhalt seines Freundes und seiner Familie wenigstens einigermaßen zu gewährleisten.

Bei dem zweiten Artikel[5]Engels: „Die Lage Englands. ‚Past and Present’ by Thomas Carlyle, London 1843″, in: MEW 1, S. 525-549. handelte es sich um eine Besprechung des 1843 erschienen Werkes „Past and Present“ von Thomas Carlyle, das Engels als das einzige englischsprachige Werk des Jahres ansah, das eine Übersetzung ins Deutsche verdiente. Dieser Artikel stellt in gewissem Sinne eine Vorstudie zu dem Buch dar, dass Engels 1845 veröffentlichte: „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“. Anschließend hatte er 30 Jahre lang wegen der Unterstützung von Marx auf finanziellem und publizistischem Gebiet keine Gelegenheit mehr für größere Veröffentlichungen.[6]Auf diese Tatsache hat Tristram Hunt hingewiesen (Hunt 2013, S. 157 f.). Nach dem Beginn der Zusammenarbeit mit Marx hätte Engels sich ihm ganz verschrieben. Und Engels beließ es nicht bei der für … Continue reading Dies änderte sich erst in seinem „Ruhestand“, in den er mit 48 Jahren eintrat, in den 1870er Jahren, in denen Engels mit dem „Anti-Dühring“ die „Bibel“ des Marxismus schrieb, die im Gegensatz zu den sehr schwer verständlichen Schriften von Marx sehr weite Verbreitung fand.

Auf der Rückreise aus England fand dann im August 1844 das denkwürdige Treffen mit Karl Marx in Brüssel statt, bei dem sie nach einer von Engels über 40 Jahre später aufgestellten Behauptung ihre „vollständige inhaltliche Übereinstimmung auf allen theoretischen Gebieten“[7]Engels: „Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten“, in: MEW 21, S. 212. Ob diese Behauptung von Engels allerdings den Tatsachen entsprach, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Zu … Continue reading feststellten und zu dem produktivsten Freundespaar der Geistesgeschichte wurden.

Wie es Engels gelang, Marx auf den Pfad der Ökonomie zu lotsen

Es war dieselbe Melodie, die die beiden in ihren Beiträgen in den „Jahrbüchern“ anstimmten, zu der sie von Moses Heß eingestimmt worden waren, der den französischen Kommunismus mit der deutschen Philosophie der Junghegelianer verbunden hatte. Nur die Tonart war eine völlig andere. Marx hatte seine Schlüsse als spekulativer Philosoph gezogen, ganz wie Moses Heß, während Engels, der bei dieser Gelegenheit gleich mit der kompletten „Nationalökonomie“ abrechnete,[8]Interessanterweise hatte auch Moses Heß schon die Bedeutung der Ökonomie erkannt, wie aus seiner Schrift „Über das Geldwesen“, das er ursprünglich ebenfalls für die „Jahrbücher“ … Continue reading dies aus ökonomischer Sicht tat. Damit gelang es Engels, Marx die überragende Bedeutung der Ökonomie für das Verständnis der Entwicklung einer Gesellschaft klar zu machen. Gerade in England, wo Engels sich ja aufhielt und wo gerade die Industrielle Revolution in vollem Gange war, war diese Tatsache kaum zu übersehen. Mag diese Schrift des 23-Jährigen auch mehr für seine freche Überheblichkeit als für seine Kenntnis der einschlägigen Schriften sprechen,[9]Siehe dazu Kurz 2020. Im Kapitel „Ökonomie“ werden wir die Aussagen von Engels in seinem Aufsatz näher untersuchen. es gelang ihm auf jeden Fall, mit der Verdammung der Konkurrenz und des Privateigentums an Marx’ Entfremdungsvorstellungen anzuknüpfen.[10]Oder wie Tristram Hunt es formulierte: „Mit erstaunlicher geistiger Reife wandte der 24-Jährige den junghegelianischen Begriff der Entfremdung auf die materielle Wirklichkeit des viktorianischen … Continue reading Und der Furor, mit dem er die „Bereicherungswissenschaft“ und den „Schacher“ geißelte, entsprach bis zur Wortwahl derjenigen in dem Aufsatz „Zur Judenfrage“ von Marx. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass bei Engels keine Juden mehr vorkamen, sondern die nichts- und eigennutzigen Händler deren Rolle übernommen hatten. Hiermit brachte er Saiten bei Marx zum Schwingen, so dass dieser erkannte, dass nicht die Philosophie, sondern die Ökonomie die Leitwissenschaft ist, mit der man zum Verständnis des Kapitalismus gelangen könne.[11]Hierauf weist Marx selber in seinen „Ökonomisch-philosophische Manuskripten aus dem Jahre 1844“, die allerdings erst im 20. Jahrhundert veröffentlicht wurden, hin (MEW 40, S. 468): „Die … Continue reading So ist seiner Einschätzung in der „Kritik der politischen Ökonomie“ aus dem Jahre 1859, in der Marx die „Umrisse“ als eine „geniale[…] Skizze zur Kritik der ökonomischen Kategorien“[12]MEW 13, S. 10. charakterisiert, nur zuzustimmen. Aber auch den späteren Vorbehalten von Engels gegen einen Wiederabdruck seiner Arbeit, weil diese die Leser „nur konfus machen könne“, muss zugestimmt werden.[13]So beantwortete er die entsprechende Bitte von Wilhelm Liebknecht am 13. April 1871 ablehnend: „Meinen alten Artikel aus den ,,D[eutsch]-F[ranzösischen] Jahrbüchern]“ jetzt im … Continue reading Sie war beides: eine „geniale“, aber eben auch „konfuse“ Skizze.

Aber nichtsdestotrotz trifft die Feststellung von Marcel van der Linden zu, der jüngst schrieb: „Die ‚Umrisse’ bildeten […] die eigentliche Grundlage der ökonomischen Schriften von Karl Marx.“[14]Engels kennenlernen 2020, S. 14. Und für Cornu und Mönke war „Engels bereits im Begriff, in der Ökonomie den Schlüssel zum Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft zu erkennen und damit die Voraussetzungen zur wissenschaftlichen Begründung des Kommunismus zu entwickeln.“[15]Cornu, Mönke 1961, S. XLIII. Cornu und Mönke stellen allerdings auch fest, dass „Moses Heß“, wiewohl er der Entwicklung von Marx und Engels letztlich „nicht zu folgen“ vermochte, „es … Continue reading Auch Marco Solinas hat dies in einem Vortrag im Jahre 2020 erneut bestätigt, wenn er sagt: „Die Geburt der Kapitalismuskritik, wenn wir unter diesem Begriff die Hegel’sche Spielart der sozialistischen Kritik der Nationalökonomie verstehen, muss dem 22-jährigen Friedrich Engels zugeschrieben werden.“[16]Solinas 2022, S. 99 Zu diesem Zeitpunkt wußte Marx „von Ökonomie […] absolut nichts“, wie Engels im Jahre 1892 Franz Mehring berichtete.[17]Brief vom 28. September 1892 (MEW 38, S. 481). Siehe auch Herres 2018, S. 46. Nach Peter Ruben hat„Engels die Geburtsurkunde[18]Insbesondere dann, wenn man der Definition des Terminus „marxistisch“ von Peter Ruben folgt, der den Begriff verwendet „zur Bezeichnung der – wesentlich durch Engels begründeten – … Continue reading der marxistischen Ökonomie unter den [sic RS] Titel ‚Umrisse zur Kritik der Nationalökonomie’ […] publiziert.“[19]Ruben 1998, S. 13. Und Heinz D. Kurz stellte fest, dass „vermutlich“ kein „Werk […] für Marx’ Hinwendung zur Politischen Ökonomie […] von größerer Bedeutung [ist] als der Essay und nur wenige üben auf ihn einen ähnlich nachhaltigen Einfluss aus.“[20]Kurz 2020, S. 68.

„Das ideologische Gerüst des wissenschaftlichen Sozialimus“ wird aufgestellt

Mit dieser Veröffentlichung ist es Engels aber nicht nur gelungen, Marx auf den Pfad der Ökonomie zu lotsen, sie enthielt auch bereits „das ideologische Gerüst des wissenschaftlichen Sozialismus“, wie Tristram Hunt zutreffend schrieb: „Vieles von dem, was man später als Elemente des Hauptstroms des Marxismus betrachtete – Klassenteilung, die instabile Natur des modernen Industriekapitalismus, der Gedanke, dass sich die Bourgeoise ihren eigenen Totengräber schuf, die Unvermeidlichkeit der sozialistischen Revolution –, war bereits in Engels’ brillanter Polemik enthalten.“[21]Hunt 2013, S. 157.

Nach Hunt machte Engels „den bemerkenswertesten ideologischen Fortschritt […], als er den junghegelianischen Begriff der Entfremdung […] ins Reich der politischen Ökonomie übertrug.“ Denn die „grundlegende Aussage von Engels’ ‚Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie’“ war gemäß Hunt die folgende: „Auslöser dieses Entfremdungsprozesses und Wurzel der politischen Ökonomie war […] das Privateigentum.“[22]Hunt 2013, S. 137. Eine Vorstellung, die Marx ja durch philosophische Schlüsse ebenfalls gewonnen hatte.

Der Wirtschaftshistoriker Heinz D. Kurz hat eine sehr profunde und ausführliche Analyse des Essays von Engels vorgelegt. Die Ausführlichkeit begründet Kurz damit, dass die ihm „bekannte Literatur zum Essay […] die Frage nach dessen Originalität und der Haltbarkeit seines frontalen Angriffs auf die damalige Nationalökonomie nur ungenügend und zum Teil irreführend beantwortet.“ Zumal „erstaunlich viele der im Essay vertretenen Postulate, Standpunkte und Urteile […] in der einen oder anderen Form in den Schriften Marx’ und insbesondere im Kapital wieder[kehren]. Dies wird sich im Folgenden in Bezug auf einige wichtige theoretische Sätze und Lehren zeigen. Darunter ist sowohl Haltbares als auch Unhaltbares“, so Kurz weiter.

Kurz beurteilt die Arbeit von Engels dabei durchaus kritisch, wenn er schreibt: Engels befasst sich „in geschwinder Abfolge mit zahlreichen Themen und fällt über die von Ökonomen dazu geäußerten Auffassungen Urteile, die beinahe durchwegs auf Verurteilungen hinauslaufen. Kühnheit und Unbekümmertheit des 23-Jährigen sind bemerkenswert. Ebenso bemerkenswert sind seine Wissenslücken und mitunter krassen Fehlurteile. Der junge Mann weiß zu wenig und begehrt zu viel. Überlagert von einer mitunter schwer erträglichen Überheblichkeit finden sich im Essay jedoch immer wieder originelle Einsichten und bedeutende Beobachtungen.“[23]Kurz 2020, S. 69 f.

Dies ist auch der erste Text, der – bei aller Konfusion, die ihm tatsächlich innewohnt – dem an die marxistische Terminologie gewöhnten heutigen Leser recht vertraut vorkommt. Bei Marx muss er wie ein Blitz, der schlagartig die gesamte Szenerie erhellte, gewirkt haben, denn eine solche Analyse hatte es von kommunistischer Seite noch nicht gegeben. Und Marx machte sich sofort daran, die Lampen zu konstruieren, die die Szene dauerhaft beleuchten sollten, indem er begann, die nationalökonomische Literatur zu studieren.[24]Die Bedeutung dieser frühen Schriften von Engels für die Herausbildung der ökonomischen Vorstellungen von Marx soll hier aber nicht näher untersucht werden. Dies wird im Kapitel Ökonomie … Continue reading Denn Marx hatte bisher nur dialektisch aus philosophischen Annahmen geschlossen, dass der eigentumslose Proletarier sich nur erheben könne, wenn er jewedes Eigentum abschaffen würde, womit das Ende des Kapitalismus gekommen wäre. Engels hatte nun gezeigt, wie der Kapitalismus quasi an seinen inneren ökonomischen Widerspruchen zwangsläufig zu Grunde gehen müsse. Diese „Gesetzmäßigkeiten“ „bewies“ Marx dann später im „Kapital“, womit sie zu „wissenschaftlichen Gewissheiten“ und „ehernen Naturgesetzen“ wurden.

Engels’ Hass auf die Geldgier der Ökonomen und Händler wurzelt im Pietismus

Was den heutigen Leser an dem Engelschen Essay aber ziemlich irritiert, ist der moralische Furor, den der junge Autor hier an den Tag legte. Verurteilungen von Ausbeutern und Kapitalisten aus marxistischer Feder ist man ja gewohnt. Aber hier werden die Wissenschaftler selbst in Grund und Boden verdammt.[25]Heinz D. Kurz fragt sich deshalb: „Was ist größer – sein Mangel an Wissen gepaart mit einer Neigung zu vorschnellem Urteil oder sein Hochmut? Wiederholt unterstellt er den Kritisierten … Continue reading Hier wirkte sich der Pietismus[26]Diese Meinung vertritt jedenfalls Thomas Kuczynski, wenn er von Engels’ „noch pietistisch gefärbte Sicht auf ‚das unsittliche Wesen des Handels’“ schreibt (Kuczynski 2020, S. 45). mit seinem moralischen Rigorismus aus, den Engels im Bergischen Land mit der Muttermilch eingesogen hatte. Auch wenn er sich frühzeitig vom strengen Glauben seiner Eltern emanzipiert hatte, zum Atheisten und Freund irdischer Genüsse geworden war, was sicherlich nicht dem Erziehungsziel seiner Eltern entsprach, und den Pietismus zeitlebens ebenso hasste wie seinen Vater, so war ihm der religiös fundierte Haß auf „Geldgier“ und „Eigennutz“ doch geblieben. Nun konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, indem er die moralischen Urteile gegen die Urheber selber wandte. Denn der Pietismus verdammte „Götzendienst“, die zu „Gier“ und „Diebstahl“ führe[27]Siehe Yoder 2021. wie schon Paulus an Timotheus geschrieben hatte: „Geldgier ist eine Wurzel alles Übels.“[28]Neues Testament. Der erste Brief des Paulus an Timotheus (1. Tim 6,10). Und jetzt konnte Engels die pietistischen Wegbereiter des Kapitalismus genau dieser Sünden überführen. Welch ein Triumpf – auch über seinen Vater!

Engels beginnt seinen Aufsatz mit härtesten moralischen Vorwürfen gegen den Handel und die ökonomische Wissenschaft, die von seiner pietistischen Herkunft zeugen, aber so auch von den beiden aus dem jüdischen Kulturkreis stammenden Mitkämpfern, Moses Heß und Karl Marx, geteilt wurden:[29]Die Übereinstimmung der Vorwürfe in den drei Essays von Engels, Moses Heß („Über das Geldwesen“) und Karl Marx („Zur Judenfrage“) sind jedenfalls frappierend. Wobei man bedenken muss, … Continue reading „Die Nationalökonomie entstand als eine natürliche Folge der Ausdehnung des Handels, und mit ihr trat an die Stelle des einfachen, unwissenschaftlichen Schachers ein ausgebildetes System des erlaubten Betrugs, eine komplette Bereicherungswissenschaft.

Diese aus dem gegenseitigen Neid und der Habgier der Kaufleute entstandene Nationalökonomie oder Bereicherungswissenschaft trägt das Gepräge der ekelhaftesten Selbstsucht auf der Stirne.“[30]Engels: Umrisse, MEW 1, S. 499.

Engels erkennt immerhin mildernde Umstände für die Schuldzumessung an, wenn er schreibt: „Je näher die Ökonomen der Gegenwart kommen, desto weiter entfernen sie sich von der Ehrlichkeit. Mit jedem Fortschritt der Zeit steigert sich notwendig die Sophisterei, um die Ökonomie auf der Höhe der Zeit zu erhalten. Darum ist z.B. Ricardo schuldiger als Adam Smith und MacCulloch und Mill schuldiger als Ricardo.“[31]Ebd., S. 501.

Mit den Stichworten „Schacher“, „Betrug“, „Bereicherung“, „Neid“, „Habgier“ und „Selbstsucht“ hat er gleich eine ganze Reihe von Todsünden aufgeführt, die er pauschal den Kaufleuten und Ökonomen vorwirft. Aber nicht nur in der Wahl der Begriffe stimmt Engels mit Heß und Marx überein. Auch die Analogien zur Entfremdungsdiskussion von Feuerbach bezüglich der Religion, die Engels benutzt und auf die Nationalökonomie münzt, fielen bei Marx auf fruchtbaren Boden. So, wenn Engels schreibt: „Wie die Theologie entweder zum blinden Glauben zurück- oder zur freien Philosophie vorwärtsgehen muß, so muß die Handelsfreiheit auf der einen Seite die Restauration der Monopole, auf der andern die Aufhebung des Privateigentums produzieren.“[32]Ebd., S. 502. Ganz wie Marx in seinen Aufsätzen argumentiert: Die Entfremdung von Gott, die Feuerbach dadurch aufgehoben hatte, dass er Gott als Schöpfung des Menschen erkannt hat, so kann die Entfremdung des Menschen von sich und der Welt durch die Aufhebung des Privateigentums aufgehoben werden. Dies ist natürlich ein unzulässiger Analogieschluss oder gar eine dialektischer Kurzschluss, aber nichts destotrotz ein Schluss, den Heß sowie Marx und Engels gezogen haben.

Engels hält also das Privateigentum und seine Folge – den Handel – für die Wurzel allen Übels. So habe die „liberale Ökonomie ihr Bestes getan […], um durch die Auflösung der Nationalitäten […] die Menschheit in eine Horde reißender Tiere […] zu verwandeln“[33]Ebd., S. 504 f.. Ganz ähnliche tierische Methaphern wird man ja bei Moses Heß finden, mit denen er seinen Haß gegen den Gelddurst, der nichts anderes, als der Blutdurst des socialen Raubthieres ist“,[34]Heß 1845; zitiert nach Cornu, Mönke 1961, S. 345 (Hervorh. immer im Original, RS). artikuliert.

Und Engels klagt weiter an: „[I]hr habt die Völker verbrüdert, aber zu einer Brüderschaft von Dieben, und die Kriege vermindert, um im Frieden desto mehr zu verdienen, um die Feindschaft der einzelnen, den ehrlosen Krieg der Konkurrenz, auf die höchste Spitze zu treiben! – Wo habt ihr etwas aus reiner Humanität, aus dem Bewußtsein der Nichtigkeit des Gegensatzes zwischen dem allgemeinen und individuellen Interesse getan? Wo seid ihr sittlich gewesen, ohne interessiert zu sein, ohne unsittliche, egoistische Motive im Hintergrunde zu hegen?“[35]Engels: Umrisse, S. 504 f.

Ganz klar! Der Egoismus ist für Engels etwas zutiefst Unsittliches – zumindest soweit er sich auf materielle Dinge bezieht[36]An sich hielt Engels einen gesunden Egoismus für unabdingbar. So schrieb er am 19. November 1844 an Marx gegen Moses Heß gewandt und die christliche – und man könnte hinzufügen – die … Continue reading – ganz genauso wie bei Heß und Marx und – so möchte man hinzufügen – wie im Pietismus und im Judentum.

Und auch die Familienbande werden aufgelöst, wie Engels schreibt: „[N]ach dieser Vorarbeit blieb ihr [der liberalen Ökonomie RS] nur noch ein Schritt zum Ziele übrig, die Auflösung der Familie. Um diese durchzusetzen, kam ihr ihre eigene schöne Erfindung, das Fabriksystem, zu Hülfe. Die letzte Spur gemeinsamer Interessen, die Gütergemeinschaft der Familie, ist durch das Fabriksystem untergraben und – wenigstens hier in England – bereits in der Auflösung begriffen.“[37]Engels: Umrisse, S. 505. Hier deuten sich schon die entsprechenden Aussagen im Kommunistischen Manifest an.

Engels wäre aber kein Hegelianer, wenn er dem Negativen nicht auch etwas Positives, etwas Fortschrittliches, hätte abgewinnen können, nämlich dass hierdurch die Voraussetzungen für den Kommunismus geschaffen werden:

„Aber der Ökonom weiß selbst nicht, welcher Sache er dient. Er weiß nicht, daß er mit all seinem egoistischen Räsonnement doch nur ein Glied in der Kette des allgemeinen Fortschrittes der Menschheit bildet. Er weiß nicht, daß er mit seiner Auflösung aller Sonderinteressen nur den Weg bahnt für den großen Umschwung, dem das Jahrhundert entgegengeht, der Versöhnung der Menschheit mit der Natur und mit sich selbst.“[38]Ebd., S. 505.

Konfusion der Begriffe

Nun folgen Ausführungen über den Wert der Waren, die ziemlich unverständlich und konfus sind. Engels äußert zwar schon eine Ahnung vom Unterschied zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, wenn er schreibt: „Der Ökonom, der von Gegensätzen lebt, hat natürlich auch einen doppelten Wert; den abstrakten oder realen Wert und den Tauschwert.“[39]Ebd., S. 505. Aber dabei scheint es sich beidesmal um den späteren Tauschwert zu handeln. Und wenn er etwas später schreibt: „Der Wert ist das Verhältnis der Produktionskosten zur Brauchbarkeit“,[40]Ebd., S. 507. dann weiß man überhaupt nicht mehr, wovon er spricht. Man kann Engels späterem Urteil deshalb nur beipflichten, dass dieser Text die Leser konfus mache, nachdem Marx im „Kapital“ glasklare Definitionen für den Gebrauchs- und den Tauschwert geliefert hat. Aber Engels hat hiermit Marx auf das zentrale Problem der damaligen Nationalökonomie gestoßen – das Wertproblem. Mit keinem ökonomischen Thema hat sich Marx derart intensiv beschäftigt wie mit diesem. Allein drei dicke Bände seiner Exzerpte zu dem Thema, die unter dem Titel „Theorien über den Mehrwert“[41]MEW Band 26,1, 26,2 und 26,3. erschienen sind, zeugen davon.

Engels geht es in seinem gesamten Aufsatz auch nicht um die Klärung dieser Begriffe, sondern darum, auch bei diesem Thema aufzuzeigen, dass sich die ganzen Probleme in Luft auflösen, sobald das Privateigentum und damit auch die Konkurrenz abgeschafft wurden.[42]Dies ist zumindest die Auffassung von Heinz D. Kurz (Kurz 2020, S. 90).

Engels kam auch schon auf das Grundproblem der Werttheorie zu sprechen, nämlich die Ableitung des Preises aus dem Wert. Ein Problem, das bis heute nicht gelöst werden konnte und eines der größten Defizite der Werttheorie darstellt. Diese Schwierigkeit war der Hauptgrund, warum diese Theorie von den nichtmarxistischen Ökonomen schon zu Marx’ Zeiten aufgegeben wurde. Wie wir im Kapitel „Ökonomie“ sehen werden, ist auch Marx an der Lösung dieses Problems – wenn auch grandios – gescheitert. Engels schrieb nicht ohne mahnenden Zeigefinger:

„Dem Unterschiede zwischen Realwert und Tauschwert liegt eine Tatsache zum Grunde – nämlich daß der Wert einer Sache verschieden ist von dem im Handel für sie gegebenen sogenannten Äquivalent, d.h., daß dies Äquivalent kein Äquivalent ist. Dies sogenannte Äquivalent ist der Preis der Sache, und wäre der Ökonom ehrlich, so würde er dies Wort für den ‚Handelswert’ gebrauchen. Aber er muß doch immer noch eine Spur von Schein behalten, daß der Preis mit dem Werte irgendwie zusammenhänge, damit nicht die Unsittlichkeit des Handels zu klar ans Licht komme. Daß aber der Preis durch die Wechselwirkung der Produktionskosten und der Konkurrenz bestimmt wird, das ist ganz richtig und ein Hauptgesetz des Privateigentums.“[43]Engels: Umrisse, S. 508.

Engels war hier weit davon entfernt, die Sache zu durchschauen. Und in Analogie zu Feuerbach fährt er fort: „So steht aber alles in der Ökonomie auf dem Kopf; der Wert, der das Ursprüngliche, die Quelle des Preises ist, wird von diesem, seinem eigenen Produkt, abhängig gemacht. Bekanntlich ist diese Umkehrung das Wesen der Abstraktion, worüber Feuerbach zu vergleichen.“[44]Ebd.

Für Engels ist der Handel eine verderbte Angelegenheit, weil der Händler auf Übervorteilung und Betrug aus ist, d.h. beim Kauf einer Ware versucht der Händler, den Preis unter den Wert zu drücken, während er beim Verkauf möglichst weit darüber liegen sollte. Aus der Differenz realisiert er seinen Gewinn. Mit Abschaffung des Privateigentums ende dieser Betrug sofort, glaubt Engels, weil die Dinge nun zu ihrem Wert getauscht werden. Hier zeigt sich bereits ein zweites Grundproblem des Marxismus: sein völliges Unverständnis für die gesellschaftliche Nützlichkeit des Handels. Marx wird später immerhin anerkennen, dass der Transport einer Ware ihren Wert erhöht, die Notwendigkeit des reinen Austausches bei einer arbeitsteiligen Wirtschaft wird auch Marx nie anerkennen. Und das, obwohl Marx und Engels sehr früh die Fähigkeit des Kapitalismus erkannten, die Welt umfassend zu globalisieren. Dafür ist aber Voraussetzung, dass der Warentransport stärker wächst als die Produktion selber. Ohne die Globalisierung und den zunehmenden Warenaustausch, der zu einem bedeutenden Teil von Händlern organisiert wurde und wird, wäre die Produktionssteigerung und damit auch die Wohlstandssteigerung durch die Industrialisierung erheblich geringer ausgefallen.

Auch in der Darstellung der Produktionskosten von Engels lässt sich der spätere Marx allenfalls erahnen. Aber es sind diese Keimformen der marxistischen Ökonomie, aus denen Marx später sein System entwickeln sollte: „Nach dem Ökonomen bestehen die Produktionskosten einer Ware aus drei Elementen: dem Grundzins für das nötige Stück Land, um das rohe Material zu produzieren, dem Kapital mit dem Gewinn darauf und dem Lohn für die Arbeit, die zur Produktion und Verarbeitung erforderlich waren. Es zeigt sich aber sogleich, daß Kapital und Arbeit identisch sind, da die Ökonomen selbst gestehen, Kapital sei ‚aufgespeicherte Arbeit’. So bleiben uns also nur zwei Seiten übrig, die natürliche, objektive, der Boden, und die menschliche, subjektive, die Arbeit, die das Kapital einschließt – und außer dem Kapital noch ein Drittes, woran der Ökonom nicht denkt, ich meine das geistige Element der Erfindung, des Gedankens, neben dem physischen der bloßen Arbeit.“[45]Ebd.

Die Darstellung der Prokuktionskosten wird bei Marx später ganz anders aussehen. So falsch diese Darstellung von Engels aus „marxistischer“ Sicht also ist, so genial ist seine Erkenntnis der Bedeutung der Wissenschaft.[46]Der sonst sehr kritische Heinz D. Kurz verfällt bei diesen Worten von Engels in regelrechte Begeisterungsstürme, die aber durchaus zutreffend sind: „Wer hat der Wissenschaft vor Engels je eine … Continue reading Damit ist er seiner Zeit und auch Marx weit voraus: „Aber für einen vernünftigen Zustand, der über die Teilung der Interessen, wie sie beim Ökonomen stattfindet, hinaus ist, gehört das geistige Element allerdings mit zu den Elementen der Produktion und wird auch in der Ökonomie seine Stelle unter den Produktionskosten finden. Und da ist es allerdings befriedigend, zu wissen, wie die Pflege der Wissenschaft sich auch materiell belohnt, zu wissen, daß eine einzige Frucht der Wissenschaft, wie James Watts Dampfmaschine, in den ersten fünfzig Jahren ihrer Existenz der Welt mehr eingetragen hat, als die Welt von Anfang an für die Pflege der Wissenschaft ausgegeben.

Wir haben also zwei Elemente der Produktion, die Natur und den Menschen, und den letzteren wieder physisch und geistig, in Tätigkeit und können nun zum Ökonomen und seinen Produktionskosten zurückkehren.“[47]Engels: Umrisse, S. 509.

Grundbesitzer sind genauso Räuber wie Händler und Geldverleiher

Nun widmet sich Engels den Grundbesitzern und stellt fest, dass diese genauso wie Händler und Geldverleiher Räuber sind. Denn Engels behauptet, dass sich die „Axiome“, „daß jeder ein Recht auf das Produkt seiner Arbeit hat oder daß keiner ernten soll, wo er nicht gesät hat“, als „Konsequenzen des Privateigentums“ ergeben. Diese „Axiome“ seien es, „welche die Erwerbsart des Grundbesitzers als Raub qualifizieren“. Unsittlichkeit, wohin man blickt. Worunter Engels nun auch den Verkauf der eigenen Arbeitskraft subsumiert, wenn er schreibt: Die „Erde zu verschachern, die unser Eins und Alles“ ist, ist „eine Unsittlichkeit, die nur von der Unsittlichkeit der Selbstveräußerung übertroffen wird.“ Womit er sicherlich nicht dem Besitzer der Ware Arbeitskraft die Sittlichkeit absprechen wollte, sondern dem Privateigentum, das den Eigentumslosen dazu zwingt, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um nicht zu verhungern.[48]Ebd., S. 510 f. Auch auf den nächsten Seiten gehen die Begriffe wie Kraut und Rüben durcheinander. Aber man erkennt, worauf er hinaus will. Das Privateigentum erzeugt die Konkurrenz und diese führt zur Aufspaltung der verschiedenen Produktionsfaktoren, als da sind Boden, Arbeit und Kapital, deren Vertreter sich feindlich gegenüber stehen. Und schlimmer noch. Die Grundeigentümer, die Kapitaleigner und die Arbeiter bilden nicht nur feindliche Gruppen, sondern stehen auch in feindlicher Konkurrenz zu den anderen Menschen in ihrer eigenen Gruppe. Die Konkurrenz erzeugt also einen Kampf aller gegen alle.

Schließlich behauptet Engels mit der Naivität eines Menschen, der noch nicht erlebt hat, wie schwierig – wenn nicht unmöglich – es ist, die Bedürfnisse der Konsumenten zu befriedigen, wenn man in einer Gesellschaft lebt, die nicht auf der Marktwirtschaft basiert, wie selbstverständlich die immer wiederkehrenden, kapitalistischen Handelskrisen ausbleiben würden, wenn die Menschen planmäßig produzieren würden: „Wüßten die Produzenten als solche, wieviel die Konsumenten bedürften, organisierten sie die Produktion, verteilten sie sie unter sich, so wäre die Schwankung der Konkurrenz und ihre Neigung zur Krisis unmöglich. Produziert mit Bewußtsein, als Menschen, nicht als zersplitterte Atome ohne Gattungsbewußtsein[49]Hier haben wir das für Marx so zentrale „Gattungswesen“. Marx dürfte auf Anhieb verstanden haben, was Engels damit sagen wollte. Dass das isolierte Individuum im Kapitalismus seinem … Continue reading und ihr seid über alle diese künstlichen und unhaltbaren Gegensätze hinaus. Solange ihr aber fortfahrt, auf die jetzige unbewußte, gedankenlose, der Herrschaft des Zufalls überlassene Art zu produzieren, solange bleiben die Handelskrisen; und jede folgende muß universeller, also schlimmer werden als die vorhergehende, muß eine größere Menge kleiner Kapitalisten verarmen und die Anzahl der bloß von der Arbeit lebenden Klasse in steigendem Verhältnisse vermehren – also die Masse der zu beschäftigenden Arbeit, das Hauptproblem unserer Ökonomen, zusehends vergrößern und endlich eine soziale Revolution herbeiführen, wie sie sich die Schulweisheit der Ökonomen nicht träumen läßt.“[50]Ebd., S. 515.

Mit dem Letztgesagten hat Engels einen weiteren Grundstein für den späteren Marxismus gelegt, auf den Marx „bauen“ wird, nämlich, dass die immer stärkerer werdenden Handelskrisen – oder „Überproduktionskrisen“ –, wie sie später heißen werden – schließlich zum Zusammenbruch des Kapitalismus und zur Revolution und damit zum Kommunismus führen würden. Eine Annahme, die sich in den folgenden 180 Jahren niemals bewahrheitet hat. Die wenigen marxistischen Revolutionen, die tatsächlich stattfanden – ob nun erfolgreich oder nicht – hatten ihre Ursache nicht in Wirtschaftskrisen, sondern in der Regel in verlorenen Kriegen und dem dadurch verursachten Zusammenbruch der Staatsgewalt.

Dabei hat Engels den Charakter dieser zyklischen Handelskrisen, die die kapitalistische Konkurrenz mit ihrer „unbewußte“n und „gedankenlose“n „Art zu produzieren“ notwendig erzeugt, durchaus richtig erfasst. Sie entstanden und entstehen nicht, weil ein Mangel herrscht, sondern weil zuviel produziert worden ist. So hungerten die Arbeiter – bevor die Arbeitslosenversicherung die Folgen der Arbeitslosigkeit milderte –, deren Arbeit nicht mehr benötigt wird, während anderseits ein Überfluss an Gütern herrscht. Dies ist tatsächlich eine richtige Beschreibung dieser völlig neuen Art von Krisen, wie sie der Kapitalismus im 19. Jahrhundert immer wieder verursacht hat und auch noch heute verursacht. Nur die Annahme, dass sich daraus eine Revolution ergeben würde, war falsch.

Nun kommt Engels zu dem schlimmsten aller Schurken – dem Börsenspekulanten, zu denen er und auch Marx später selber gehören sollten: „Kulminationspunkt der Unsittlichkeit ist die Börsenspekulation in Fonds, wodurch die Geschichte und in ihr die Menschheit zum Mittel herabgesetzt wird, um die Habgier des kalkulierenden oder hasardierenden Spekulanten zu befriedigen. Und möge sich der ehrliche, ‚solide’ Kaufmann nicht pharisäisch über das Börsenspiel erheben – ich danke dir Gott usw.[51]Hier wieder ein deutlicher Seitenhieb auf seinen Vater, der sich als pietistischer Kaufmann sicher frei von diesen Sünden fühlte. Er ist so schlimm wie die Fondsspekulanten, er spekuliert ebensosehr wie sie, er muß es, die Konkurrenz zwingt ihn dazu, und sein Handel impliziert also dieselbe Unsittlichkeit wie der ihrige. Die Wahrheit des Konkurrenzverhältnisses ist das Verhältnis der Konsumtionskraft zur Produktionskraft. In einem der Menschheit würdigen Zustande wird es keine andre Konkurrenz als diese geben. Die Gemeinde wird zu berechnen haben, was sie mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln erzeugen kann, und nach dem Verhältnis dieser Produktionskraft zur Masse der Konsumenten bestimmen, inwieweit sie die Produktion zu steigern oder nachzulassen, inwieweit sie dem Luxus nachzugeben oder ihn zu beschränken hat. Um aber über dies Verhältnis und die von einem vernünftigen Zustande der Gemeinde zu erwartende Steigerung der Produktionskraft richtig zu urteilen, mögen meine Leser die Schriften der englischen Sozialisten und zum Teil auch Fouriers vergleichen.“[52]Ebd., S. 515 f.

Engels schließt seinen Essay mit der Feststellung, dass nicht nur die wirtschaftlichen Tätigkeiten unsittlichen Charakter tragen, sondern dass das Verbrechen sogar direkt gefördert wird: „Die Konkurrenz hat alle unsre Lebensverhältnisse durchdrungen und die gegenseitige Knechtschaft, in der die Menschen sich jetzt halten, vollendet. Die Konkurrenz ist die große Triebfeder, die unsre alt und schlaff werdende soziale Ordnung, oder vielmehr Unordnung, immer wieder zur Tätigkeit aufstachelt, aber bei jeder neuen Anstrengung auch einen Teil der sinkenden Kräfte verzehrt. Die Konkurrenz beherrscht den numerischen Fortschritt der Menschheit; sie beherrscht auch ihren sittlichen. […] Die Ausdehnung des Fabriksystems hat überall eine Vermehrung der Verbrechen zur Folge. […] Diese Regelmäßigkeit beweist, daß auch das Verbrechen von der Konkurrenz regiert wird, daß die Gesellschaft eine Nachfrage nach Verbrechen erzeugt, der durch eine angemessene Zufuhr entsprochen wird“.[53]Ebd., S. 523.

Zuvor war Engels noch mal auf die Ursachen dieser Krisen eingegangen: „Der Kampf von Kapital gegen Kapital, Arbeit gegen Arbeit, Boden gegen Boden treibt die Produktion in eine Fieberhitze hinein, in der sie alle natürlichen und vernünftigen Verhältnisse auf den Kopf stellt. Kein Kapital kann die Konkurrenz des andern aushalten, wenn es nicht auf die höchste Stufe der Tätigkeit gebracht wird. Kein Grundstück kann mit Nutzen bebaut werden, wenn es nicht seine Produktionskraft stets steigert. Kein Arbeiter kann sich gegen seine Konkurrenten halten, wenn er nicht seine ganzen Kräfte der Arbeit widmet. Überhaupt keiner, der sich in den Kampf der Konkurrenz einläßt, kann ihn ohne die höchste Anstrengung seiner Kräfte, ohne die Aufgebung aller wahrhaft menschlichen Zwecke aushalten.“

Und Engels fährt fort mit einem nicht gerade logischen Schluss: „Wenn die Schwankung der Konkurrenz gering ist, wenn Nachfrage und Zufuhr, Konsumtion und Produktion sich beinahe gleich sind, so muß in der Entwicklung der Produktion eine Stufe eintreten, in der so viel überzählige Produktionskraft vorhanden ist, daß die große Masse der Nation nichts zu leben hat; daß die Leute vor lauter Überfluß verhungern. In dieser wahnsinnigen Stellung, in dieser lebendigen Absurdität befindet sich England schon seit geraumer Zeit. Schwankt die Produktion stärker, wie sie es infolge eines solchen Zustandes notwendig tut, so tritt die Abwechslung von Blüte und Krisis, Überproduktion und Stockung ein. Der Ökonom hat sich diese verrückte Stellung nie erklären können; um sie zu erklären, erfand er die Bevölkerungstheorie, die ebenso unsinnig, ja noch unsinniger ist als dieser Widerspruch von Reichtum und Elend zu derselben Zeit. Der Ökonom durfte die Wahrheit nicht sehen; er durfte nicht einsehen, daß dieser Widerspruch eine einfache Folge der Konkurrenz ist, weil sonst sein ganzes System über den Haufen gefallen wäre.“[54]Ebd., S. 516 f.

Der Kampf gegen die Bevölkerungstheorie von Malthus

Diese Theorie des „übervölkerten Großbritannien“ trifft nun ganz offensichtlich nicht zu, denn, so Engels weiter, die „der Menschheit zu Gebote stehende Produktionskraft ist unermeßlich. Die Ertragsfähigkeit des Bodens ist durch die Anwendung von Kapital, Arbeit und Wissenschaft ins Unendliche zu steigern. Das ‚übervölkerte’ Großbritannien kann nach der Berechnung der tüchtigsten Ökonomen und Statistiker […] in zehn Jahren dahin gebracht werden, daß es Korn genug für das Sechsfache seiner jetzigen Bevölkerung produziert. Das Kapital steigert sich täglich; die Arbeitskraft wächst mit der Bevölkerung, und die Wissenschaft unterwirft den Menschen die Naturkraft täglich mehr und mehr. Diese unermeßliche Produktionsfähigkeit, mit Bewußtsein und im Interesse aller gehandhabt, würde die der Menschheit zufallende Arbeit bald auf ein Minimum verringern.“[55]Ebd., S. 517.

Um von dieser offensichtlichen Tatsache abzulenken und zu erklären, wieso es immer wieder zu diesen Krisen kommt, wurde von Malthus die Bevölkerungstheorie entwickelt, meinte Engels. Diese „Malthussche Bevölkerungstheorie [… ist] das rauhste barbarischste System, das je existierte, ein System der Verzweiflung, das alle jene schönen Redensarten von Menschenliebe und Weltbürgertum zu Boden schlug“.[56]Ebd., S. 500 f. Es ist für den überzeugten Kommunisten nur eine „infame, niederträchtige Doktrin“, eine „scheußliche Blasphemie gegen die Natur und Menschheit“. Mit dieser Theorie werde „die Unsittlichkeit des Ökonomen auf ihre höchste Spitze“ getrieben. „Was sind alle Kriege und Schrecken des Monopolsystems gegen diese Theorie?“, fragt der junge Autor. Und er ruft vorwurfsvoll aus: Ist „die Konkurrenz hier als die Ursache des Elends, der Armut, des Verbrechens nachgewiesen, wer will ihr dann noch das Wort zu reden wagen?“[57]Ebd., S. 518.

Woher stammt dieser Furor, mit dem Engels und später auch Marx so vehement die Malthussche Theorie verdammen?[58]Weil das Verständnis der Malthusschen Theorie und die Stellung dazu für das Verständnis des Marxismus meiner Meinung nach eine sehr große Bedeutung hat, werden wir diese Frage in einem … Continue reading Und nicht nur die Theorie wird verdammt, sondern auch ihr Schöpfer, den Marx für einen „Plagiarius“, einen „Elende“n, der “wissenschaftliche Gemeinheit[en … und] Sünde[n] gegen die Wissenschaft“ im Dienste der „reaktionären Elemente dieser herrschenden Klassen“ begeht, hält.[59]Marx, Karl: Theorien über den Mehrwert (Vierter Band des „Kapitals“), in: MEW 26, Bd. 2, S. 111 ff. Es lag wohl nicht nur daran, dass viele Anhänger dieser Theorie die – tätsächlich äußerst menschenfeindliche – Folgerungen zogen, dass man die Armenunterstützung einstellen könne und hungernden Menschen nicht helfen müsse,[60]Malthus selber hatte vorgeschlagen, die Geburtenrate zu senken durch verbesserte Bildung und Enthaltsamkeit – Empfängnisverhütung lehnte er als anglikanischer Pfarrer ab … Continue reading da es sowieso zuviele Menschen gebe.[61]Dieser Fall trat tragischerweise kurz nach der Veröffentlichung von Engels’ Essays ein. Als die wiederkehrende Kartoffelfäule von 1845 bis 1849 in Irland die Ernährungsgrundlage der irischen, … Continue reading Es lag wohl in erster Linie daran, dass Marx und Engels der Meinung waren, dass ein Reich des Überflusses, wie es der Kommunismus erfordert, niemals möglich sein würde, weil die Menschen immer um die begrenzten Ressourcen konkurrieren müssten, wenn diese Theorie tatsächlich stimmen sollte. Sie ist sozusagen die Antitheorie zum Ideal des Kommunismus mit den friedlich und im Überfluss zusammenlebenden Menschen.

Tatsächlich ist das Gesetz von Malthus eines der wenigen „ehernen Naturgesetze“ der sozialen Biologie, bzw. der Ökonomie. Zwar ist es äußerst inhuman und unmoralisch, dass der Tod einer großen Zahl von Menschen den Überlebenden ein besseres Leben verspricht, dennoch kann man dies weder dem Gesetz noch gar seinem Entdecker anlasten.[62]So fanden Wirtschaftshistoriker heraus, dass die Überlebenden der großen Pest in England – eine der verheerendsten Katastrophen, die die Menschheit in der westlichen Welt während der letzten … Continue reading Sowenig, wie man dem Gravitationsgesetz oder Newton die Schuld dafür geben kann, wenn ein Mensch einen Sturz in die Tiefe nicht überlebt.

Dabei liegt das Gesetz auf der Hand und man kann sich wundern, dass es nicht schon früher erkannt wurde. Wenn sich die Ernährungsgrundlage verbessert, wächst die Population – das gilt ebenso für Pflanzen und Tiere wie für Menschen. Das Wachstum entsteht durch eine höhere Geburtenrate oder eine geringere Sterberate oder beides. Übersteigt die Zunahme der Bevölkerung die Zunahme der Lebensmittel, was über kurz oder lang in der bisherigen Menschheitsgeschichte regelmäßig eingetreten ist, dann sinkt der Lebensstandard und damit sinkt auch die Geburten- und es steigt die Sterberate, was zur Folge hat, dass die Bevölkerung wieder abnimmt. Diese Situation wird auch als Malthusianische Falle, in der die Menschheit, wie alle anderen Lebewesen auch, bis zum Beginn der Industriellen Revolution gefangen war, bezeichnet und sorgt dafür, dass die Population von Lebewesen bei gleichen Bedingungen auf Dauer konstant bleibt.[63]Siehe Clark 2007, S. 20.

Darwin glaubte, in der Theorie von Malthus den Motor der natürlichen Evolution gefunden zu haben. Wenn nicht alle Lebewesen, die geboren werden, ins fortpflanzungsfähige Alter kommen, dann setzen sich die Gene der Lebewesen durch, denen dies gelingt. Es pflanzen sich also die am besten Angepassten fort.[64]Siehe Clark 2007, S. 112. Diese Anleihe bei Malthus vergällte Marx und Engels anfänglich die Begeisterung für Darwins Evolutionstheorie ganz erheblich, die sie im Prinzip sehr begrüßten, weil sie sehr gut in ihr materialistisches Konzept passte.[65]Siehe dazu den Beitrag „Engels und die Naturwissenschaften“, Kapitel „Anfängliche Ablehnung des ‚Kampfs ums Dasein’“.

Dabei beschrieb Engels die Hypothese von Malthus ganz korrekt: „Malthus stellt eine Berechnung auf, worauf er sein ganzes System basiert. Die Bevölkerung vermehre sich in geometrischer Progression: 1 + 2 + 4 + 8 + 16 + 32[66]Hierbei handelt es sich um exponentielles Wachstum. Wikipedia schreibt dazu: „Anders als lineares oder polynomiales Wachstum verursacht exponentielles Wachstum auch bei anfangs nur kleinen … Continue reading usw., die Produktionskraft des Bodens in arithmetischer: 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6.“

Dramatisch fährt er fort: „Die Differenz ist augenscheinlich, ist schreckenerregend“. Aber, so fragt er,„ist sie richtig?“ Er könnte nun dem Leser den Schrecken nehmen, indem er argumentiert, dass die Bevölkerung nicht in geometrischer Progression zunehmen würde, wenn genügend Subsidenzmittel vorhanden wären. Engels geht aber den entgegengesetzten Weg und landet damit bei der absurden Aussage vom „unendlichen“ „Fortschritt“ durch die Wissenschaft: „Wo steht erwiesen, daß die Ertragsfähigkeit des Bodens sich in arithmetischer Progression vermehre? Die Ausdehnung des Bodens ist beschränkt, gut. Die auf diese Fläche zu verwendende Arbeitskraft steigt mit der Bevölkerung; nehmen wir selbst an, daß die Vermehrung des Ertrags durch Vermehrung der Arbeit nicht immer im Verhältnis der Arbeit steigt; so bleibt noch ein drittes Element, das dem Ökonomen freilich nie etwas gilt, die Wissenschaft, und deren Fortschritt ist so unendlich und wenigstens ebenso rasch als der der Bevölkerung. Welchen Fortschritt verdankt die Agrikultur dieses Jahrhunderts allein der Chemie, ja allein zwei Männern – Sir Humphrey Davy und Justus Liebig?“[67]Engels: Umrisse, S. 521.

Hiermit hatte Engels dem Marxismus eine weitere Hypothek aufgebürdet, bevor er noch richtig begründet ward: der Glaube an unendliches Wachstum. Aber die Hypothek würde nicht von Engels stammen, wenn hinter ihr nicht eine geniale Erkenntnis hervorblitzen würde.

Die Neolithische Revolution hatte die Wirkung der Malthusianischen Falle auf die Menschheit erheblich verschärft. Zwar hatte sich mit der Einführung der Landwirtschaft die Produktivität gegenüber der Zeit der Jäger und Sammler dramatisch verbessert, aber dies führte nicht zu einer Verbesserung des Lebensstandards für die große Masse der Menschen. Denn jede Zunahme der Produktivität wurde durch eine mindestens ebenso starke Zunahme der Zahl der Menschen aufgezehrt. Es entstand aber eine kleine Schicht von Menschen, die viel reicher waren als die meisten anderen, was natürlich den Neid derer hervorrief, die weiter im Elend leben mussten. Und durch die Städte, die nun aufblühten, wurde die Menschheit viel verwundbarer durch Naturkatastrophen und auch menschengemachte Katastrophen, seien es Erdbeben, Seuchen, Missernten oder Kriege.

Engels hatte nun als einer der ersten richtig erkannt, dass es dank der gewaltigen Zunahme der Produktivität durch Agrarchemie und Maschinen in den Fabriken im Zuge der Industriellen Revolution erstmals in der Menschheitsgeschichte gelingen könnte, Bevölkerungswachstum und Wohlstandszuwachs zu kombinieren, dadurch dass die Zunahme der Produktivität die Zunahme der Bevölkerung übertrifft. Dies hatte Malthus nicht für möglich gehalten. Dies hatte es zuvor auch noch niemals gegeben.

Damit verliert das Gesetz von Malthus natürlich nicht seine Gültigkeit – im Gegenteil. Denn die Zunahme der Produktion von Lebensmitteln hat tatsächlich zu einer gewaltigen Zunahme der Menschen auf der Erde geführt. In den 220 Jahren seit der ersten Auflage seines Werkes im Jahre 1798 hat sich die Zahl der Menschen verachtfacht.[68]Siehe: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1694/umfrage/entwicklung-der-weltbevoelkerungszahl/. Im Jahre 1800 gab es 980.000.000 Menschen auf der Erde, im Jahre 2020 waren es … Continue reading Diese Zunahme wird zu Recht als Bevölkerungexplosion bezeichnet: „Die Erdbevölkerung wuchs in Jahren, in denen sich die Wachstumsrate erhöhte, superexponentiell. Grund für diesen Verlauf war vor allem das starke Sinken der Sterberate bei einem nur langsamen Sinken der Geburtenrate.“ Im Jahre 1970 lag die Wachstumsrate bei 2% und hatte damit ihr Maximum erreicht. Inzwischen sinkt sie kontinuierlich, bis sie zur Mitte dieses Jahrhunderts bei Null liegen und die höchste Zahl der Menschen auf der Erde mit 10 Mrd. erreicht sein dürfte. Danach wird die Zahl der Menschen wieder zurückgehen.[69]https://de.wikipedia.org/wiki/Bevölkerungsentwicklung#Historische_Entwicklung. Wenn die Zuwachsrate von 1970 bis bis ins Jahr 2100 bei 2% geblieben wäre, würden Ende dieses Jahrhunderts 50 Mrd. Menschen die Erde bevölkern (hundert Jahre später wären es dann 362 Mrd.). Selbstverständlich könnte die Erde diese große Zahl nicht verkraften und die Malthusiansche Falle würde wieder zuschnappen, indem die Menschheit durch Katastrophen dezimiert werden würde.[70]Damit die Erde diese 10 Mrd. Menschen verkraften kann, ist es unabdingbar, dass die Wirtschaft auf Nachhaltigkeit ausgerichtet wird.

Der Grund dafür, dass die Bevölkerungsexplosion gestoppt werden konnte, liegt in einem starken Rückgang der Geburtenrate, die man auf den Bildungs- und Wohlstandszuwachs zurückführt, der praktisch auf der gesamten Welt stattgefunden hat. Schon Malthus hatte Bildung und Enthaltsamkeit (Verhütung lehnte er als anglikanischer Pfarrer ab) als Mittel gegen das ungebremste Bevölkerungswachstum vorgeschlagen. Dass es möglich sein könnte, dass die Produktion der Subsidenzmittel das Wachstum der Bevölkerung für einen längeren Zeitraum übertreffen könnte, konnte er tatsächlich nicht ahnen. Dies hatte Engels richtig vorhergesehen. Nicht richtig lag Engels allerdings mit der Annahme, dass die Zunahme der Produktion dauerhaft höher als ein exponentielles Bevölkerungswachstum sein könnte. Und auch Engels hat nicht geahnt, dass ein höherer Wohlstand zu einem Rückgang der Geburtenrate führen würde – quasi ein positiver Rückkoppelungseffekt. Völlig falsch lag Engels mit der Vorhersage, dass eine Verbesserung des Lebensstandards vieler Menschen im Kapitalismus nicht möglich sein würde, weshalb dieser zusammenbrechen müsse. Diesen Wohlstandszuwachs haben alle Industrie- und auch die meisten Entwicklungsländer zustande gebracht, allerdings haben die kapitalistischen Staaten hierbei wesentlich besser abgeschnitten als die planwirtschaftlichen Gesellschaften. Es blieb im übrigen zwei Planwirtschaften vorbehalten, im 20. Jahrhundert durch politische Maßnahmen gewaltige Hungersnöte zu verursachen, die zu einem starken Rückgang der betroffenen Bevölkerung führten (Stalin durch die Kollektivierung der Landwirtschaft in den 1930er Jahren und Mao durch den Großen Sprung nach vorn in den 1950ern). Maßnahmen, bei denen sich die Herrschenden – ob nun zu Recht oder Unrecht – auf Marx und Engels beriefen.

Es ist eine Ironie der Weltgeschichte, dass ausgerechnet die Kommunistische Partei der VR China, die ja immer noch behauptet, im Geiste von Marx und Engels zu herrschen, das rigoroseste malthusianische Programm der Weltgeschichte verordnet hat, indem sie fast allen Chinesen von 1980 bis 2016 verbot, mehr als ein Kind zu haben. Nebenbei bemerkt mit durchschlagendem Erfolg. Es wird nur noch wenige Jahre dauern, bis die Einwohnerzahl Chinas zurückgehen wird.[71]Diese drastische Verringerung des Bevölkerungswachstums ist eine der Ursachen dafür, dass in der VR China im Zeitraum von 1990 bis 2017 die zweithöchste Zunahme des „Index‘ der … Continue reading

Tatsächlich ist die marxistische Wirtschaftstheorie, die hier erstmals von Engels in Ansätzen entwickelt wird und später von Marx fortgeführt wurde, selber durch und durch malthusianisch. Denn die Maschinerie, die einerseits diese gewaltige Produktionssteigerung ermöglicht, setzt andererseits Arbeiter frei, weil ihre Arbeit nicht mehr benötigt wird, so dass sich ihre Lage auf Dauer sogar verschlechtern muss.[72]S. z. B. Engels: Umrisse, S. 523 f. Malthus sah den Grund für die Verelendung darin, dass zuviele Menschen geboren würden. Im Marxismus tritt sogar bei gleichbleibender Bevölkerungszahl eine Verelendung ein, weil es immer mehr Arbeiter gibt und weil immer mehr arbeitslos werden, weil sie von Maschinen ersetzt werden. Wenn dem aber so ist, dann wäre es ja gerade eine Aufgabe der Arbeiterbewegung gewesen, für eine Geburtenbeschränkung bei den Arbeitern zu werben, um die Konkurrenz unter ihnen zu verringern.

Engels hat tatsächlich unter den elenden Bedingungen der Arbeiter gelitten – das ehrt ihn sicherlich als Mitglied der Kapitalisten- und damit der herrschenden „Ausbeuterklasse“. Aber es ist sehr fraglich, ob es den Arbeitern in England tatsächlich schlechter ging als ihren Vorfahren auf dem Land und vor allem ist auch Engels die langsame Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht entgangen, die er allerdings auf die Bestechung durch Profite aus der kolonialen Ausbeutung zurückführte. Eine Theorie, die Rosa Luxemburg und Lenin ja später auf ihre jeweilige Weisen ausbauen sollten, worauf an anderer Stelle noch näher eingegangen wird.

Die Malthusianische Falle kann übrigens nach wie vor wieder zuschnappen. Denn die durch die Steigerung des Wohlstandes verursachte Klimaveränderung kann zu Katastrophen führen, die die Zahl der Menschen drastisch reduzieren würde.

Die hier skizzierten Überlegungen von Engels fielen bei Marx auf fruchtbaren Boden. Er begann nicht nur sofort mit dem Studium der ökonomischen Literatur,[73]Diese Ansicht vertritt auch Ernst Nolte (s. Nolte 1983a, S. 340). er sollte dieses Gebiet bis zum Lebensende auch nicht mehr verlassen. Es gelang ihm aus dem Engelschen Durcheinander eine glasklare Begrifflichkeit mittels der Werttheorie zu entwickeln, mit der er glaubte, die Thesen bewiesen zu haben, die Engels in diesem kleinen Aufsatz aufgestellt hatte.[74]Lassen wir noch mal Heinz D. Kurz zu Wort kommen: Es „überrascht […], in welch beachtlichem Umfang Engels Themen und Aussagen der späteren Lehre von Marx vorwegnimmt. Beinahe alle großen im … Continue reading Ob dies tatsächlich der Fall war, werden wir im Kapitel „Ökonomie“ untersuchen. Engels verzichtete nach der Veröffentlichung der „Lage der arbeitenden Klasse“ dreißig Jahre auf Buchveröffentlichungen, weil er die „Subsidenzmittel“ für Marx und seine Familie beschaffen musste und auch sonst allerlei Arbeiten für Marx übernahm, damit dieser den Rücken frei hatte für seine ökonomischen Studien. Nach dem Tode von Marx dürfte es Engels aufgegangen sein, wie sehr sein Freund daran gescheitert war, eine umfassende ökonomische Theorie aufzustellen. Mit der Herausgabe der Bände 2 und 3 des „Kapitals“ versuchte, Engels dieses Scheitern mehr oder weniger erfolgreich zu kaschieren und kam damit am Ende seines Lebens wieder auf das Gebiet der Ökonomie zurück, mit dem er sein geistiges Wirken als Revolutionär begonnen hatte.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Nolte 1983a, S. 333.
2 Er legte diese Analyse in zwei bahnbrechenden Werken vor: Engels, Friedrich: „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie.“ In: MEW 1, S. 499-524 (zukünftig zitiert als Engels: Umrisse) und ders.: „Die Lage der arbeitenden Klasse in England.“ In: MEW 2, S. 225-506 (zukünftig zitiert als Engels: Lage). Dieses Werk, das ein Bestseller wurde, erschien allerdings erst 1845. Am 7. März 1845 schrieb Engels an Marx, dass das Manuskript des Buches fertig sei und „dieser Tage ab“gehe (MEW 27, S. 22; s. a. Brief vom 17. März, ebd., S. 24). Zu den Quellen von Engels siehe: Regina Roth: Engels’ Irlandbild in seiner Lage der arbeitenden Klasse in England von 1845. In: Marx-Engels-Jahrbuch 2011, S. 113-129 und vor allem auch Nolte 1983a.
3 Vor den besagten beiden Artikeln hatte Engels bereits 10 Artikel in deutschen, schweizerischen und englischen Zeitungen veröffentlicht (siehe MEW 1, S. 454-498 und MEW 41, S. 317-322).
4 Engels: Umrisse.
5 Engels: „Die Lage Englands. ‚Past and Present’ by Thomas Carlyle, London 1843″, in: MEW 1, S. 525-549.
6 Auf diese Tatsache hat Tristram Hunt hingewiesen (Hunt 2013, S. 157 f.). Nach dem Beginn der Zusammenarbeit mit Marx hätte Engels sich ihm ganz verschrieben. Und Engels beließ es nicht bei der für Marx existentiellen materiellen Unterstützung. Er schrieb auch häufig Artikel für Zeitungen, die unter Marx’ Namen erschienen und für die dieser auch das Honorar erhielt, damit er sich in Ruhe seinen ökonomischen Studien widmen konnte.
7 Engels: „Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten“, in: MEW 21, S. 212. Ob diese Behauptung von Engels allerdings den Tatsachen entsprach, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Zu verschieden war ihre Herangehensweise, die sich aber sehr schnell anglich.
8 Interessanterweise hatte auch Moses Heß schon die Bedeutung der Ökonomie erkannt, wie aus seiner Schrift „Über das Geldwesen“, das er ursprünglich ebenfalls für die „Jahrbücher“ verfasst hatte (Cornu, Mönke 1961, S. 329-348), eindeutig hervorgeht. Und auch Marx hatte ja in seiner Schrift Zur Judenfrage(MEW 1, S. 347-377) schon ökonomische Themen gestreift. Man kann also sagen, dass dies Thema in der Luft lag und mit den Händen zu greifen war. Aber erst Engels brachte die Nationalökonomie ins Spiel.
9 Siehe dazu Kurz 2020. Im Kapitel „Ökonomie“ werden wir die Aussagen von Engels in seinem Aufsatz näher untersuchen.
10 Oder wie Tristram Hunt es formulierte: „Mit erstaunlicher geistiger Reife wandte der 24-Jährige den junghegelianischen Begriff der Entfremdung auf die materielle Wirklichkeit des viktorianischen England an“. (Hunt 2013, S. 157). Auch wenn sich Hunt hier auf das Jahr 1845 bezieht, als Engels an der „Lage“ schrieb, so gilt dieser Aussage auch schon für die „Umrisse“ aus dem Jahr zuvor.
11 Hierauf weist Marx selber in seinen „Ökonomisch-philosophische Manuskripten aus dem Jahre 1844“, die allerdings erst im 20. Jahrhundert veröffentlicht wurden, hin (MEW 40, S. 468): „Die inhaltsvollen und originalen deutschen Arbeiten für diese Wissenschaft reduzieren sich indes – außer Weitlings Schriften – auf die in den ‚21 Bogen’ gelieferten Aufsätze von Heß und auf Engels‘ ‚Umrisse zur Kritik der Nationalökonomie’ in den ‚Deutsch-Französischen Jahrbüchern’“. Auch im Band I des „Kapitals“ erwähnte Marx die „Umrisse“ von Engels mehrmals (s. Kuczynski 2020, S. 45).
12 MEW 13, S. 10.
13 So beantwortete er die entsprechende Bitte von Wilhelm Liebknecht am 13. April 1871 ablehnend: „Meinen alten Artikel aus den ,,D[eutsch]-F[ranzösischen] Jahrbüchern]“ jetzt im ,,Volksst[aat]“ abdrucken, geht absolut nicht. Das Ding ist ganz veraltet und voller Unrichtigkeiten, die die Leute nur konfus machen würden. Dabei ist es noch ganz in der Hegelschen Manier, die auch absolut nicht mehr paßt. Es hat nur noch Wert als historisches Aktenstück.“ (MEW 33, S. 208; s. dazu auch den Brief von Marx an Liebknecht vom 13. April 1871, ebd., S. 207). Auch die junge Russin Jewgenija Eduardowna Papritz (1854-1919) konnte Engels im Jahre 1884 nicht zum Wiederabdruck seines Aufsatzes bewegen. Auch wenn er sich von ihrer Anfrage „außerordentlich geschmeichelt“ fühlte, wisse er „doch nur zu gut, daß sie heute ganz und gar überholt und nicht nur voller Mängel, sondern auch voller ‚Böcke’ ist“, wie er ihr, nicht ohne ein „bißchen stolz [… zu sein] auf diese meine erste gesellschaftswissenschaftliche Arbeit,“ schrieb (Brief vom 26. Juni 1884, in: MEW 36, S. 170). Erst anlässlich seines 70. Geburtages im Jahre 1890 ließ er sich von Karl Kautsky zu einem Wiederabdruck überreden (s. Kuczynski 2020, S. 45).
14 Engels kennenlernen 2020, S. 14.
15 Cornu, Mönke 1961, S. XLIII. Cornu und Mönke stellen allerdings auch fest, dass „Moses Heß“, wiewohl er der Entwicklung von Marx und Engels letztlich „nicht zu folgen“ vermochte, „es selbst zu Anläufen historisch-materialistischer Geschichtsauffassung gebracht hatte“ (ebd., S. XLVII).
16 Solinas 2022, S. 99
17 Brief vom 28. September 1892 (MEW 38, S. 481). Siehe auch Herres 2018, S. 46.
18 Insbesondere dann, wenn man der Definition des Terminus marxistischvon Peter Ruben folgt, der den Begriff verwendet „zur Bezeichnung der – wesentlich durch Engels begründeten – Parteimeinung über die Lage und die geschichtliche Aufgabe der Arbeiter.“ Auch wenn „in diesem Sinne […] der Marxismus […] erst durch den Anti-Dühring von 1877/78 festgestellt und parteiverbindlich“ wurde, so könne „zweifellos behauptet werden, daß die Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie die Intention desselben deutlich vorstellen.“ Für „die in den von Marx selbst publizierten Texten präsentierte Lehre“ wählt Ruben dagegen den „Terminus Marxsche Theorie(Ruben 1998, S. 15, Anm. 7., Hervorh. im Original RS).
19 Ruben 1998, S. 13.
20 Kurz 2020, S. 68.
21 Hunt 2013, S. 157.
22 Hunt 2013, S. 137.
23 Kurz 2020, S. 69 f.
24 Die Bedeutung dieser frühen Schriften von Engels für die Herausbildung der ökonomischen Vorstellungen von Marx soll hier aber nicht näher untersucht werden. Dies wird im Kapitel Ökonomie geschehen. Hier wollen wir nur der Frage nachgehen, wie es Engels gelang, Marx – einen eingefleischten Philosophen, der die Spekulation liebte – auf den Pfad der Ökonomie zu locken. Hierbei wird sich zudem zeigen, dass es nicht Feuerbach war, der Marx vom Materialismus überzeugte. Wenn man unter Materialismus versteht, die materiellen Lebensgrundlagen als den Ausgangspunkt der Theorie zu betrachten, kann man ohne weiteres sagen, dass diese Art des Materialismus von Friedrich Engels entwickelt und von Marx übernommen wurde. Im weiteren Verlauf werden wir uns aber fragen müssen, ob Marx und Engels überhaupt Materialisten waren – im Engelschen Sinne, dass „von den gegebenen Tatsachen auszugehn ist“ – oder, ob sie nicht doch Zeit ihres Lebens der Spekulation, die sie in ihrer Jugend so ausgiebig praktiziert hatten, treu geblieben sind und damit nicht Engels’ Maxime beherzigt haben, dass „die Zusammenhänge nicht in die Tatsachen hineinzukonstruieren, sondern aus ihnen zu entdecken […] sind.“ (Engels: Dialektik, in: MEW 20, S. 334 (Hervorh. im Original RS).
25 Heinz D. Kurz fragt sich deshalb: „Was ist größer – sein Mangel an Wissen gepaart mit einer Neigung zu vorschnellem Urteil oder sein Hochmut? Wiederholt unterstellt er den Kritisierten Auffassungen, die sie nie vertreten haben. Aber schlimmer noch: Er verwechselt wissenschaftliche Beobachter und Beobachtete. Ökonomen behandelt er so, als bestünde eine Personalunion zwischen ihnen und den Vertretern der besitzenden Klassen.“ (Kurz 2020, S. 115).
26 Diese Meinung vertritt jedenfalls Thomas Kuczynski, wenn er von Engels’ „noch pietistisch gefärbte Sicht auf ‚das unsittliche Wesen des Handels’“ schreibt (Kuczynski 2020, S. 45).
27 Siehe Yoder 2021.
28 Neues Testament. Der erste Brief des Paulus an Timotheus (1. Tim 6,10).
29 Die Übereinstimmung der Vorwürfe in den drei Essays von Engels, Moses Heß („Über das Geldwesen“) und Karl Marx („Zur Judenfrage“) sind jedenfalls frappierend. Wobei man bedenken muss, dass sowohl Engels als auch Heß die Aufsätze der jeweils anderen nicht kannten, als sie ihren jeweiligen Text verfassten, während Marx beide Arbeiten vor Drucklegung der „Jahrbücher“ vorlagen und ihn somit bei der Abfassung seiner Beiträge beeinflusst haben könnten. Man könnte also sagen, dass der Marxismus auf dem Nährboden eines jüdischen Pietismus entstand – jüdischer Messianismus und Erlösungsglaube (Heß und Marx) gepaart mit dem moralischen Rigorismus des Pietismus (Engels).
30 Engels: Umrisse, MEW 1, S. 499.
31 Ebd., S. 501.
32 Ebd., S. 502.
33 Ebd., S. 504 f.
34 Heß 1845; zitiert nach Cornu, Mönke 1961, S. 345 (Hervorh. immer im Original, RS).
35 Engels: Umrisse, S. 504 f.
36 An sich hielt Engels einen gesunden Egoismus für unabdingbar. So schrieb er am 19. November 1844 an Marx gegen Moses Heß gewandt und die christliche – und man könnte hinzufügen – die jüdische Herkunft des Hasses auf den Egoismus völlig klar erkennend: „Daher haßt er [Moses Heß RS] auch allen und jeden Egoismus, und predigt Menschenliebe usw., was wieder auf die christliche Aufopferung herauskommt. Wenn aber das leibhaftige Individuum die wahre Basis, der wahre Ausgangspunkt ist für unsren „Menschen“, so ist auch selbstredend der Egoismus – natürlich nicht der Stirnersche Verstandesegoismus allein, sondern auch der Egoismus des Herzens – Ausgangspunkt für unsre Menschenliebe, sonst schwebt sie in der Luft.“ (MEW 27, S. 12, Hervorh. im Original).
37 Engels: Umrisse, S. 505.
38, 39 Ebd., S. 505.
40 Ebd., S. 507.
41 MEW Band 26,1, 26,2 und 26,3.
42 Dies ist zumindest die Auffassung von Heinz D. Kurz (Kurz 2020, S. 90).
43 Engels: Umrisse, S. 508.
44, 45 Ebd.
46 Der sonst sehr kritische Heinz D. Kurz verfällt bei diesen Worten von Engels in regelrechte Begeisterungsstürme, die aber durchaus zutreffend sind: „Wer hat der Wissenschaft vor Engels je eine derartige Hymne in Bezug auf ihre Bedeutung für die Steigerung der menschlichen Produktivität gewidmet?“ (Kurz 2020, S. 93).
47 Engels: Umrisse, S. 509.
48 Ebd., S. 510 f.
49 Hier haben wir das für Marx so zentrale „Gattungswesen“. Marx dürfte auf Anhieb verstanden haben, was Engels damit sagen wollte. Dass das isolierte Individuum im Kapitalismus seinem Gattungswesen vollkommen entfremdet ist, weil es kein „Gattungsbewußtsein“ besitzt.
50 Ebd., S. 515.
51 Hier wieder ein deutlicher Seitenhieb auf seinen Vater, der sich als pietistischer Kaufmann sicher frei von diesen Sünden fühlte.
52 Ebd., S. 515 f.
53 Ebd., S. 523.
54 Ebd., S. 516 f.
55 Ebd., S. 517.
56 Ebd., S. 500 f.
57 Ebd., S. 518.
58 Weil das Verständnis der Malthusschen Theorie und die Stellung dazu für das Verständnis des Marxismus meiner Meinung nach eine sehr große Bedeutung hat, werden wir diese Frage in einem gesonderten Beitrag näher untersuchen.
59 Marx, Karl: Theorien über den Mehrwert (Vierter Band des „Kapitals“), in: MEW 26, Bd. 2, S. 111 ff.
60 Malthus selber hatte vorgeschlagen, die Geburtenrate zu senken durch verbesserte Bildung und Enthaltsamkeit – Empfängnisverhütung lehnte er als anglikanischer Pfarrer ab (https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Robert_Malthus).
61 Dieser Fall trat tragischerweise kurz nach der Veröffentlichung von Engels’ Essays ein. Als die wiederkehrende Kartoffelfäule von 1845 bis 1849 in Irland die Ernährungsgrundlage der irischen, bäuerlichen Bevölkerung zerstörte, halfen weder die überwiegend englischen Grundbesitzer noch die englische Regierung den Hungernden durch Lebensmittellieferungen. Im Gegenteil, das für die Grundbesitzer geerntete Getreide wurde nach wie vor exportiert. Von ca. acht Millionen Iren starben eine Millionen Menschen. Zwei Millionen wanderten aus. Dieser Demozid – Mord an der eigenen Bevölkerung durch unterlassene Hilfeleistung – ist als Trauma den Iren in aller Welt bis heute gegenwärtig. Ein solch menschenverachtendes Verhalten einer Regierung gegenüber ihren hungernden Bürgern hat sich in Westeuropa nicht wiederholt. Es blieb Stalin vorbehalten in den 1930er Jahren in der Ukraine einen Völkermord durch Hunger durchzuführen. Diesem Holodomor(Tötung durch Hunger) fielen „schätzungsweise drei bis sieben Millionen Menschen zum Opfer“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Holodomor).
62 So fanden Wirtschaftshistoriker heraus, dass die Überlebenden der großen Pest in England – eine der verheerendsten Katastrophen, die die Menschheit in der westlichen Welt während der letzten 1.000 Jahre heimsuchte –, die fast die Hälfte der Bevölkerung dahinraffte, einen um über 30% höheren Lebensstandard hatten als ihre Vorfahren (https://ourworldindata.org/breaking-the-malthusian-trap).
63 Siehe Clark 2007, S. 20.
64 Siehe Clark 2007, S. 112.
65 Siehe dazu den Beitrag „Engels und die Naturwissenschaften“, Kapitel „Anfängliche Ablehnung des ‚Kampfs ums Dasein’“.
66 Hierbei handelt es sich um exponentielles Wachstum. Wikipedia schreibt dazu: „Anders als lineares oder polynomiales Wachstum verursacht exponentielles Wachstum auch bei anfangs nur kleinen Veränderungen im weiteren Verlauf deutlich größere, so dass ein exponentielles Wachstum ab einem bestimmten Zeitpunkt jedes lineare oder polynomiale Wachstum um Größenordnungen übersteigt.“
67 Engels: Umrisse, S. 521.
68 Siehe: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1694/umfrage/entwicklung-der-weltbevoelkerungszahl/. Im Jahre 1800 gab es 980.000.000 Menschen auf der Erde, im Jahre 2020 waren es 7.790.000.000. Das entspricht einer durchschnittlichen jährlichen Zunahme von 1,74%.
69 https://de.wikipedia.org/wiki/Bevölkerungsentwicklung#Historische_Entwicklung.
70 Damit die Erde diese 10 Mrd. Menschen verkraften kann, ist es unabdingbar, dass die Wirtschaft auf Nachhaltigkeit ausgerichtet wird.
71 Diese drastische Verringerung des Bevölkerungswachstums ist eine der Ursachen dafür, dass in der VR China im Zeitraum von 1990 bis 2017 die zweithöchste Zunahme des „Index‘ der menschlichen Entwicklung“ von allen Ländern der Erde zu verzeichnen war (Der Indexwert stieg in dieses 27 Jahren, dessen Maximum 1 ist, von 0,502 um 0,25 Punkte auf 0,752). Eine weitere entscheidende Ursache liegt natürlich in der Einführung der sozialistischen Marktwirtschaft, wie in China die Implementierung kapitalistischer Elemente in die Staatswirtschaft genannt wird.

Im Jahre 2016 wurde den Eltern wieder erlaubt, zwei Kinder zu haben, ab 2021 dürfen es sogar drei sein. Ob dadurch die Zahl der Geburten spürbar steigen wird, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall wird China in den nächsten Jahrzehnten zu den Staaten gehören, in denen sich die Anzahl der Menschen am schnellsten verringern und in denen die Bevölkerung die größte Überalterung aufweisen wird. Da auch nicht zu erkennen ist, dass dieser Zukunft durch verstärkte Zuwanderung entgegen gewirkt wird wie in vielen Staaten Europas, bleibt abzuwarten, welche Ergebnisse dieses gesellschaftspolitische Experiment zeitigen wird.

72 S. z. B. Engels: Umrisse, S. 523 f.
73 Diese Ansicht vertritt auch Ernst Nolte (s. Nolte 1983a, S. 340).
74 Lassen wir noch mal Heinz D. Kurz zu Wort kommen: Es „überrascht […], in welch beachtlichem Umfang Engels Themen und Aussagen der späteren Lehre von Marx vorwegnimmt. Beinahe alle großen im Kapital aufgeworfenen Fragen spricht er an, und vielfach gleichen sich die gegebenen Antworten. Die Seelenverwandtschaft der beiden Autoren ist erstaunlich.“ Auch wenn „vieles von dem, was Engels zu Papier bringt, schief, problematisch oder schlicht unhaltbar“ ist (Kurz 2020, S. 115). Und vorher schrieb er bereits: „Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass Engels damit das Konzept des ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ vorwegnimmt.“ (ebd., S. 114).