Zusammenfassung

Moses Heß (1812-1875) stammte wie Karl Marx aus einer Familie mit langer Rabbiner-Tradition und wie bei Engels war sein Vater erfolgreicher Fabrikant. Er wurde jüdisch-orthodox von seinem Großvater erzogen. Obwohl er zwei Jahre an der Universität Bonn studierte, war er ähnlich wie Engels im wesentlichen Autodidakt. Mit 25 Jahren veröffentlichte er anonym sein erstes Buch, worin er eine Heilsgeschichte in Hegelscher Manier ausgehend von der jüdischen und christlichen Offenbarung und der Aufklärung beschrieb. Darin schilderte er, dass die Menschheit wieder in ein Zeitalter ohne Privateigentum eintreten werde und damit die Entfremdung des Menschen aufgehoben würde. Eine Gesellschaft von Freien und Gleichen, in der Allen Alles gehört, würde entstehen. Gleichzeitig würde die „patriarchalische“ Gesellschaft, die aus der kommunistischen Urgesellschaft durch die Einführung des Eigentums entstanden war, und die „Ehesklaverei“ beendet und die Kindererziehung der Allgemeinheit überlassen. Hiermit hatte er das erste kommunistische Programm in Deutschland formuliert. Die Ideen stammten zwar größtenteils von den französischen Frühsozialisten, aber die Leistung von Heß bestand darin, diese Überlegungen mit der Philosophie der Junghegelianer verknüpft zu haben, für die der Begriff der Entfremdung und ihre Aufhebung zentral waren.

1841 veröffentlichte Heß ebenfalls anonym „Die europäische Triarchie“, in der er herausstellte, dass die deutsche Philosophie, die französische Politik und die englische Praxis letztlich dasselbe Ziel hätten – den Kommunismus. Hierin kann man in der Tradition von Kant einmal die Vision des friedlichen Zusammenlebens der freien europäischen Länder, wie sie heute verwirklicht ist, sehen. Andererseits ist dies natürlich auch einer der Quellen, die die marxistische Idee der Weltrevolution gespeist hat. Außerdem ist bemerkenswert, dass die Vorstellung, dass die europäischen Völker gemeinsam die Reaktion, deren Hort er in Russland sah, besiegen müssten, vielen aus jüdischer Tradition stammenden Deutschen gemeinsam war. Man denke hier an Heinrich Heine, Ludwig Börne, Saul Asher und natürlich Karl Marx. Die Ursache lag darin, dass die jüdischen Mitbürger durch die französische Besetzung von vielen Einschränkungen befreit wurden. So lehnten sie von Anfang an den gegen die Franzosen gerichteten deutschen Nationalismus ab.

In der „Triarchie“ forderte Heß auch schon eine „Philosophie der That“. Also eine Philosophie, die die Welt nicht nur „interpretiert“, sondern auch „verändert“, wie Marx es wenig später in seinen berühmten Feuerbach-Thesen fordern sollte.

1843 war er Gründungsmitglied der Redaktion der radikal-demokratischen „Rheinischen Zeitung“ in Köln, zu der er auch Karl Marx holte. Den Herausgebern war Heß jedoch zu kommunistisch, so dass sie den weniger radikalen Marx zum Chefredakteur ernannten. In dieser Zeit dürfte der Austausch der beiden sehr eng gewesen sein.

In dieser Zeit bekehrte Heß Engels zum Kommunismus. Bei Marx hatte er damit erstmal keinen Erfolg, sondern erst im Pariser Exil 1843/44. Dabei übernahm er auch die Vorstellung vom eigentumslosen Proletariats als Befreier der Menschheit von Heß. Einzig mit der „Diktatur des Proletariats“, die Marx und Engels ja später vehement forderten, wollte Heß sich nie anfreunden. Der enge Gedankenaustausch von Marx und Heß lässt sich auch daran erkennen, dass beide fast gleichzeitig einen Aufsatz veröffentlichten, in dem sie sich zu antisemitischen Äußerungen hinreißen ließen. Bei Marx viel das Wort vom „Schacherjuden“, Heß sprach sogar von „Blutsaugern“.

Der dritte Mann: Die Bedeutung von Moses Heß für die Entstehung des Marxismus

Einführung

Moses Heß[1]Eine kurze und prägnante Zusammenfassung findet sich in: Reuter, Ursula: Moses Heß. Das wichtigste Werk über Moses Heß haben Auguste Cornu und Wolfgang Mönke im Jahre 1961 in der DDR … Continue reading ist heute in Deutschland nur noch wenigen ein Begriff und das, obwohl ihn seine Zeitgenossen als „Vater der deutschen Sozialdemokratie“[2]So haben es seine Freunde in der SPD auf seinen Grabstein meißeln lassen (s. Rosen 1983, S. 187). Erfreulicherweise gab es aber seit seinem 200. Geburtstag am 21.4.2012 eine Reihe neuer … Continue reading ansahen und er „einer der frühen Förderer und Inspiratoren des jungen Marx“[3]HKWM, Band 7/II, Sp. 1402 („Komplementarität“). war. Mit Fug und Recht kann man sogar sagen, dass er der dritte Mann war, der den Marxismus schuf. Möglicherweise hätte es ohne sein Zutun keine Zusammenarbeit von Marx und Engels und damit auch keinen Marxismus gegeben. Viele der Grundgedanken des Marxismus stammen zudem von Heß, und er hat sie Marx nahe gebracht. Die Beschäftigung mit dem ersten Kommunisten in deutschen Landen ist aber nicht nur deshalb lohnend. An seiner Person kann man auch sehr gut die Verhältnisse und die politischen Strömungen der damaligen Zeit erkennen, von denen einige später so verhängnisvoll werden sollten. Auch die eigentlichen Triebkräfte hinter dem revolutionären Engagement liegen bei Heß offener zu Tage als bei Marx und der Kontrast gegenüber der Verengung und Dogmatisierung dieser Grundelemente, die Marx und Engels unter der Flagge der Verwissenschaftlichung vornahmen, lässt sich hier schon deutlich erkennen.

 

Die Lage der Juden in Deutschland im 19. Jahrhundert

Moses Heß wurde in eine jüdisch-orthodoxe Familie geboren. Tobias Jaecker schildert die Lage der Juden in den deutschen Landen zu dieser Zeit mit folgenden Worten: „Die Juden lebten bis ins späte 18. Jahrhundert überall mehr oder weniger abgesondert von der übrigen Bevölkerung. Sie standen unter der rechtlichen Aufsicht ihrer eigenen rabbinischen Gerichte und unterschieden sich durch ihre Sprache (das ‚Jiddische’ oder ‚Jüdisch-Deutsche’), ihre Kleidung und ihre religiösen Gebräuche und Familientraditionen deutlich vom Rest der Bevölkerung. Sie mussten zwar im späten 18. Jahrhundert nur noch selten in Ghettos leben, pflegten aber in ‚Judenhäusern’ oder ‚Judengassen’ in der Nähe der Synagoge zusammen zu wohnen und bildeten so oft eine räumlich abgeschlossene Gruppe.“ Sie soziale Lage der meisten Juden war äußerst prekär: „Als ‚reich’ können höchstens zwei Prozent der Juden bezeichnet werden. Dagegen lebten mindestens zwei Drittel in ungesicherten ökonomischen Verhältnissen, wenn nicht gar in Armut.“[4]Jaecker 2002, Kap. 1.

Frankreich war das erste Land in Europa, das sämtliche „antijüdische[n] Sonderrechte“ aufhob und ihnen das „uneingeschränkte[…] Bürgerrecht“ verlieh. Dies geschah am 13. November 1791 durch Beschluss der Französischen Nationalversammlung.[5]Jaecker 2002, Kap. 2.2. Im selben Jahr war in den USA der 1. Zusatzartikel zur Verfassung verabschiedet worden, der vollständige Religionsfreiheit garantierte. Durch die Annexion der linksrheinischen deutschen Gebiete durch Frankreich im Jahre 1797 galt diese Gleichberechtigung nun auch hier. Zwar wurde diese durch das „décret infâme“ im Jahre 1808 durch Napoleon I. wieder eingeschränkt,[6]Jaecker 2002, Kap. 2.2. dennoch blieb die Lage der Juden besser als vor der französischen Besatzung. So durften Juden wieder in Köln leben, was ihnen Jahrhunderte lang untersagt war. David Heß (1790-1851), der Vater von Moses, nutzte diese Chance und zog 1816 nach Köln, um dort einen Kolonialwarenladen zu betreiben. Später beteiligte er sich an einer Zuckerfabrik, was ihn zu einem vermögenden Mann machte. Der älteste Sohn blieb aber in Bonn, um von seinem Großvater eine traditionelle jüdische Erziehung zu erhalten. Eine Schule besuchte er nicht. Nachdem seine Mutter im Jahr 1825 verstorben war, zog er zu seinem in Köln ansässigen Vater und den jüngeren Geschwistern.[7]Cornu, Mönke 1961, S. XIII f.

Kindheit und Jugend von Moses Heß und Friedrich Engels hatten viele Gemeinsamkeiten. Beide waren Fabrikantensöhne, beider Eltern waren tief religiös, die einen waren orthodoxe Juden, die anderen protestantische Pietisten. Und beide Söhne hegten eine tiefe Abneigung gegen ihren jeweiligen Vater. Beide machten auf Wunsch des Vaters keinen Schulabschluss und das Studium blieb ihnen versagt – beide waren also gezwungenermaßen Autodidakten. Mit Marx hatte Heß gemeinsam, dass beide aus Familien stammten, in denen es eine lange Rabbiner-Tradition gab.

 

Kindheit und Jugend von Moses Heß und die Einstellung der Juden zu Frankreich und Deutschland

Moses Heß wurde am 21. Januar 1812 in der Bonner „Judengasse“ geboren und war damit sechs Jahre älter als Karl Marx. Bereits mit 16 Jahren löste er sich vom orthodoxen Glauben und beklagte sich in seinem Tagebuch über die Erziehung seines Großvaters mit den Worten: Er sei bis in sein „fünfzehntes Jahr über den Talmud schwarz und blau geschlagen“ worden.[8]Zitiert nach Mohl 2015, S. 307. Später, als er sich wieder stärker mit dem Judentum verbunden fühlte, fand er in seiner zionistischen Schrift „Rom und Jerusalem“ liebevolle Worte für seinen Großvater: „Er las […] mit seinen Enkelchen, die bis Mitternacht aufbleiben mußten, die Sagen von der Vertreibung der Juden aus Jerusalem. Der schneeweiße Bart des strengen alten Mannes wurde bei der Lektüre von Tränen benetzt; auch wir Kinder konnten uns dabei natürlich nicht des Weinens und Schluchzens enthalten.“[9]Zitiert nach Weiß 2015, S. 26. Damit hatte er seinem „Enkelchen“ Moses eine tiefe Sehnsucht nach Jerusalem als Sinnbild des „gelobten Landes“ eingepflanzt, die sein Sehnen und Trachten sein Leben lang bestimmen sollte.

Aber die Ausbildung mit dem Talmud genügte dem jungen Mann keineswegs. Die Tür in das Leben und die Bildung heraus aus der engen jüdischen Gemeinde hatte die französische Revolution aufgestoßen. Auch wenn sie von Napoleon und Preußen als Nachfolger der Franzosen als Herrn über die Rheinlande wieder ein Stück weit geschlossen worden war, stand sie doch noch weit genug auf, um ihm und vielen seiner jungen Glaubensgenossen die Möglichkeit zu geben, selbstbewusst und sich gleichberechtigt fühlend in die Welt der europäischen Kultur und Politik zu treten. Dabei ist nicht nur an Karl Marx zu denken, dessen Vater ihn allerdings hatte taufen lassen, sondern auch an Heinrich Heine (1797-1856), der sich ebenfalls taufen ließ, um sich damit das Entre Billet zur Europäischen Kultur zu verschaffen. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an Ludwig Börne (1786-1837), der ebenso wie Heine noch den Weg ging, sich taufen zu lassen. Zudem legte er auch seinen Namen ab, der da lautete: Juda Löw Baruch. Schließlich denken wir auch an Ferdinand Lassalle (1825-1864), den Jüngsten, der hier Aufgeführten. Diese nach Anerkennung und Gleichberechtigung suchenden deutschen Juden waren anfangs allesamt Anhänger der französischen Revolution.

Diese aus jüdischen Familien stammenden Deutschen hatten ein feines Gespür für die Zweischneidigkeit des deutschen Nationalbewusstseins – besonders drastisch bei Heinrich Heine –, das sich einerseits gegen die französische Fremdherrschaft richtete, andererseits aber auch gegen die Errungenschaften der französischen Revolution. Mit der Herausbildung des nationalen „Befreiungskampfes“ entwickelten sich auch starke antifranzösische Ressentiments verbunden mit einem „rassischen“ und nicht mehr religiösem Antisemitismus, weil die Kritik nun auch vor getauften Juden nicht halt machte.

Zuvörderst ist hier Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) zu nennen. Er war zwar ein Anhänger der Französischen Revolution, wandte sich im Jahre 1793 aber entschieden gegen den „Staat im Staate“, den die Juden bilden würden. Er billigte ihnen zwar die Menschenrechte zu, aber „ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken.“[10]Aus „Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution,“ zitiert nach Wikipedia: Johann Gottlieb Fichte.

Gegen diese Töne wandte sich der jüdische Zeitgenosse Saul Asher (1767-1822), der ebenfalls ein Anhänger der französischen Revolution war. So 1815 mit seinem Buch „Germanomanie“, in dem er auch mutig und öffentlich gegen die entsprechenden Äußerungen von Ernst Moritz Arndt (1769-1860) und des Turnvaters Jahn (1778-1852) argumentierte, indem er sich für Kosmopolitismus und gegen Nationalismus aussprach.

So legitim der Wunsch der Deutschen war, die französische Fremdherrschaft abzuschütteln und einen Nationalstaat zu bilden, so folgenreich war die zu diesem Zwecke eingegangene Allianz mit Russland und die Frontstellung gegen die französische Revolution und die jüdischen Mitbürger. Denn Russland war schon damals ein Hort der Reaktion und erstickte zusammen mit Österreich und Preußen in den folgenden Jahrzehnten jedes demokratisch oder nur freiheitlich gestimmte Aufbegehren im Keim. Die oben genannten Vertreter des Judentums hielten die Errungenschaften der französischen Revolution dagegen weiter hoch, wetterten gegen den Nationalismus (Asher und Heine) und plädierten für eine kosmopolitische Einstellung. Damit sind sie uns Bürgern des Vereinten Europa, die mit wenigen Ausnahmen (Balkan und Ukraine) seit nunmehr über 75 Jahren keinen Krieg mehr kennen, viel näher, als die deutschen Nationalisten.

Diese jüdischen Revolutionäre suchten ihr Heil nicht in der Befreiung und Einigung des Vaterlandes, sondern in der Befreiung aller europäischen Völker. Und da glaubten sie einen Verbündeten gefunden zu haben: das eigentumslose Proletariat. Es war das Mittel der Wahl gegen den engstirnigen Nationalismus und sollte auch die Kapitalisten ein für alle Mal vom Erdball tilgen. Sie empfanden es als Zumutung, dass die Freiheiten der französischen Revolution nicht zu mehr Gleichheit und zur Beseitigung von Ausbeutung und Elend führten, sondern diese z.T. noch vergrößerten. Und während das Elend der großen Masse, die den Reichtum schuf, wuchs, wuchs andererseits der Reichtum der wenigen Kapitalisten, wozu auch zunehmend Juden gehörten. Hier musste Abhilfe geschaffen werden und das schien nur durch Abschaffung von Freiheiten möglich zu sein, wie zuvörderst das Recht auf Privateigentum. Mit diesem wäre auch die Entfremdung verschwunden, die dem Privateigentum und dem Geld geschuldet war.

Was man damals nicht erkannte, war, dass es nicht nur oder vielleicht nicht mal in erster Linie der Kapitalismus war, der das Elend hervorrief, sondern die starke Zunahme der Bevölkerung. Nur dank der Industrialisierung konnte die wachsende Bevölkerung überhaupt ernährt werden und die Menschheit der Malthusianischen Falle entkommen, in der sie bis dahin gesteckt hatte.[11]Siehe dazu Clark 2007. Die Malthusianischen Falle, die auch für das Tier- und Pflanzenreich existiert, bedeutet, dass jede Verbesserung der Ernährungssituation zu einer Zunahme der Population … Continue reading

Die Bourgeoisie schien zudem das Interesse verloren zu haben, weiter für die Revolution und die Freiheitsrechte zu kämpfen.Da kam den Revolutionären der neue Bündnispartner gerade recht. Das aber hatte tragische Folgen. Tragisch war dabei nicht der Wunsch, mit dem Proletariat gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu kämpfen, tragisch war die Folgerung, z. B. von Marx, dass diese Befreiung nur durch eine gewaltsame Revolution mit dem Ziel der Errichtung der Diktatur des Proletariats zu erringen sei. Zwar konnte sich das Proletariat von dieser Fantasie der Intellektuellen befreien, indem es sich weigerte, irgendwo auf der Welt eine Diktatur zu errichten. Aber andere Intellektuelle waren so sehr fasziniert von diesem Herrschaftsmodell, dass sie mit allen Mitteln versuchten, diese Vision zu realisieren und an die Macht zu gelangen, was Lenin in Russland schließlich 1917 auch gelang. Mit den bekannten verheerenden Folgen für Russland und die Welt.

Immerhin wurde die vollkommene Gleichstellung der Juden in die Pauls-Kirchen-Verfassung aufgenommen und nach der Niederlage der demokratischen Revolution in vielen deutschen Ländern schrittweise realisiert. Die vollständige Gleichberechtigung in ganz Deutschland erfolge aber erst mit der Reichsverfassung von 1871.

So führten die Jahre bis zum 1. Weltkrieg zu einem einzigartigen sozialen Aufstieg der Juden in Deutschland, was natürlich auch Neider auf den Plan rief. Lebte Anfang des 19. Jahrhundert der weit überwiegende Teil der Juden in Armut, so waren es am Ende des Jahrhunderts nur noch ein Viertel. „Rund 60% gehörten bereits zum mittleren und höheren Bürgertum.“[12]Jaecker 2002, Kap. 3.2.

Man kann also von einer starken Verbürgerlichung der jüdischen Bevölkerung sprechen. Und das Bürgertum erlebte insgesamt einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland, obwohl es der Bourgeoisie nicht gelungen war, die alleinige Herrschaft zu erringen, was sie laut Engels bei Strafe ihres Unterganges hätte tun müssen.[13][Engels, Friedrich]: [Der Status quo in Deutschland], in: MEW 4, S. 56.

Auch das Proletariat profitierte von dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung, weshalb in der SPD, die bei den Wahlen zum Reichstag immer besser abschnitt, die Frage diskutiert wurde, ob eine Revolution des Proletariats noch von Nöten sei. Das ging so weit, dass sich Teile der SPD mit dem Kaiserreich arrangierten und dem 1. Weltkrieg zustimmten – der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.

Das 19. Jahrhundert war für die deutschen Juden die Zeitspanne, in der sie aus dem Elend zu Anerkennung, Wohlstand und bürgerlichen Berufen (unter Journalisten, Rechtsanwälten, Ärzten und Wissenschaftlern gab es überproportional viele Juden) kamen. Gegen Ende des Jahrhunderts erhob der Antisemitismus zwar noch mal sein Haupt, war aber am Ende des Kaiserreiches praktisch bedeutungslos und die jüdischen Mitbürger stolze und anerkannte Deutsche.[14]Jaecke 2002, Kap. 3.6. Dies alles änderte sich durch den 1. Weltkrieg, indem die Schuldigen sich aus der Verantwortung stahlen und die Siegermächte sich zu keinem für Deutschland erträglichen Friedensschluss entschließen konnten, sondern lieber auf Rache sannen. Der Antisemitismus in seiner mörderischen Ausprägung (die Morde an Walther Rathenau und Kurt Eisner hatten neben politischen auch rassistische Hintergründe) entstand, breitete sich aus und bedrängte die erste demokratische Republik auf deutschem Boden, die aber auch keine Hilfe erhielt von den Jüngern von Marx und Engels, die sich in der KPD gesammelt hatten.

So erlebten die europäischen Völker – darunter auch das deutsche – die größte Katastrophe ihrer Geschichte. Der Mord an den europäischen Juden war ebenfalls die größte Katastrophe in der an Katastrophen wahrlich reichen Geschichte der Juden. Immerhin fanden sie daraufhin ihr Jerusalem, indem sie nach 2.000 Jahren in Palästina ihren eigenen Staat gründen konnten und die europäischen Völker fanden – so wollen wir wenigstens hoffen – endlich ihren Frieden miteinander, den die Juden im Vormärz schon erträumt hatte.

So hätte sich die Hoffnung von Saul Asher, die zwischenzeitlich so bitter enttäuscht worden war, schließlich doch noch erfüllt:

„Als eine Zusammenfassung seiner Gedanken [von Saul Asher RS] lässt sich seine 1819 verfasste Schrift ‚Der deutsche Geistesaristokratismus‘ verstehen. Ausgehend vom Ideal der Französischen Revolution käme Deutschland die Rolle zu, diese zu vollenden. Deutschland biete Voraussetzungen eines sich auflösenden Nationalismus zugunsten eines allmählich fortschreitenden völkerverbindenden Kosmopolitismus.“[15]Zitiert nach Wikipedia: Saul_Ascher.

 

Die ersten Veröffentlichungen des jungen Heß

Aber zurück zum jungen Heß. Zwei Jahre hatte er im väterlichen Geschäft in Köln gearbeitet. Autodidaktisch hatte er sich mit deutscher Philosophie beschäftigt, bevor er von 1837 bis 1839 Philosophie an der Universität Bonn studierte, ohne einen Abschluss zu machen.

Bereits mit 25 Jahren, im Jahre 1837, veröffentlichte er sein erstes Werk: „Die heilige Geschichte der Menschheit.“ Statt seines Autorennamens hieß es nur: „Von einem Jünger Spinozas“.[16]Gewidmet hatte er es „allen gottesfürchtigen Regierungen“ (Heß 1837, S. 5). Heß stellte in seinem Erstlingswerk mit hegelscher Dialektik die Offenbarungen des Judentums und des Christentums sowie die Aufklärung als verschiedene Ausprägungen derselben „ewige[n] Wahrheit“ dar. Damit hatte er die Heilsgeschichte der Menschheit mit dem Judentum verknüpft – allein das war schon ein unerhörter, ein revolutionärer Gedanke:[17]S. dazu auch Weiß 2015, S. 44. „In der reinen Phantasie [der Urzeit und der Antike RS] erscheint Gott […] einig aber noch bildlich, beschränkt mit zeitlichen Attributen. Im reinen Gemüthe [des Mittelalters RS] kämpft die ewige Idee Gottes mit der beschränkten Vorstellung desselben“. „Im reinen Verstande [in der Neuzeit] endlich wird Gott wieder einig erfaßt, wie in der reinen Phantasie, aber als ewige Weisheit, ohne zeitliche, vergängliche Eigenschaften.“[18]Heß 1837, S. 198.

Ebenfalls dialektisch entwickelte sich die Menschheit: „Am Anfange war unter den Menschen eine natürliche Gleichheit“. Dann kam mit dem „Recht der Erblichkeit“ das Recht „des Eigenthums auf“ und die „patriarchalisch[e]“ Gesellschaft entstand.[19]Heß 1837, S. 258 f. Er warnte auch schon vor einer „Revolution“, wenn der „Gegensatz des Reichthums und der Armuth“ nicht „friedlich geschlichtet“ werde.[20]Heß 1837, S. 304. Er äußerte die Erwartung, dass „von Frankreich […] die ächte Politik, wie von Deutschland die wahre Religion, ausgehen“ werde. Durch „die Vereinigung beider aber wird das neue Jerusalem entstehen. […] und das Reich der Freiheit wird gegründet seyn.“[21]Heß 1837, S. 310. In diesem Paradies auf Erden werde das „Weib […] eben so gut, wie der Mann, einer humanen Bildung sich erfreuen. Und der Mann und das Weib werden sich vereinigen durch das Band der freien Liebe. Und die Erziehung der Jugend wird gleich, unmittelbar unter der Ansicht des Staates seyn.“ Dadurch werde der „Ehezwang“ verschwinden und „der eheliche Bund wird keine Sklavenkette mehr seyn.“[22]Heß 1837, S. 317 f. (Hervorh. im Original). Im „neuen Jerusalem“,[23]Heß 1837, S. 311. Dem 3. Kapitel hatte Heß die Überschrift gegeben „Das neue Jerusalem und die letzten Zeiten.“ das er als Reiches Gottes auf Erden ansah, wären alle sozialen Gegensätze[24]Heß spricht in diesem Werk noch nicht von Klassen, aber die sozialen Gegensätze „der Niedern und Hohen, der Plebejer und Patrizier, der Armen und Reichen“ (ebd., S. 331) kann man durchaus als … Continue reading verschwunden, weshalb er eine Gewaltenteilung in dem Reich, „in dem […] Alles frei und gleich ist“ für unnötig hielt, denn „drei Gewalten, welche Eins sind, wird es demnach im Gottesreiche geben: Das Volk als Masse, oder den Leib des Volkes; das Volk als Gesetzvollzieher oder den Willen des Volkes; das Volk endlich als Gesetzgeber, oder den Geist des Volkes.“[25]Heß 1837, S. 327 u. 331 f. (Hervorh. im Original). Das bedeutet wohl, dass es Gesetze und damit den Rechtsstaat durchaus noch geben sollte. Es ist auch keine Rede davon, dass der Staat absterben werde. Man kann aus dem Gesagten auch schließen, dass auch die Demokratie beibehalten und sogar noch ausgeweitet werden sollte.

Hiermit waren in Deutschland zum ersten Mal etliche der späteren Grundannahmen des Marxismus geäußert worden[26]Um die Jahreswende 1838/39 veröffentlichte der Schneidergeselle Wilhelm Weitling sein Werk „Die Menschheit. Wie sie ist und wie sie sein sollte“, indem er gleich eine Ordnungsstruktur – … Continue reading – allerdings aus einem mystisch-religiösen Nebel steigend. Und genau wie anfangs bei Marx spekulierte Heß noch ganz in Hegelscher Manier kräftig drauflos. Allerdings mit einem ordentlichen Schuss Spinoza.

In der Utopie, die Heß präsentierte, wird, nachdem die Unterschiede zwischen den Menschen in der Gegenwart auf die Spitze getrieben wurden, eine Gesellschaft von Freien und Gleichen, in der Allen Alles gehört, entstehen, womit die Ausgangslage der ursprünglichen Gleichheit wieder erreicht ist, wenn auch auf höherer Ebene. Gleichberechtigung der Geschlechter und die „freie Liebe“ werde an die Stelle der ehelichen „Sklavenkette“ treten. Die Erziehung und Ausbildung der Kinder durch die Gesellschaft statt durch die Eltern erscheint dann nur noch als logische Konsequenz.

Hier finden wir schon vieles von dem, was später die Theorie von Marx und Engels ausmachen wird: Den Urkommunismus, die Beseitigung des Privateigentums und damit der Klassen, die freie Liebe und die staatliche Kinderaufzucht. Der größte Unterschied besteht darin, dass keine Aufhebung des Staates, des Rechtsstaates und der Demokratie für alle Bürger gepredigt wird, so wie es Marx und Engels später taten.[27]Engels schrieb denn auch im Jahre 1843, dass „Dr. Heß […] in der Tat der erste Kommunist in der Partei war“. (Engels, Friedrich: „Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent.“ In: … Continue reading

Im Jahre 1841 folgte ebenfalls anonym „Die europäische Triarchie“, worin Heß den Versuch unternahm, die politisch-moralische Herangehensweise der Franzosen und die praktisch-ökonomische der Engländer mit der philosophischen der Deutschen zu verbinden, um dadurch eine revolutionäre Neugestaltung Europas vorzunehmen, indem er schrieb:

„Nach unserer schon ausgesprochenen Ansicht ist England dazu berufen, die Freiheit ganz zu realisiren. Bis dahin ist Alles nur Stückwerk. Die Deutschen und Franzosen können es beim besten Willen ohne ihr Mittelglied, England, zur Erlangung des Zieles nicht bringen. Eben so wenig kann aber auch England für sich allein zum Ziele gelangen. Religion, Sitten und Gesetze müssen durch unsere vereinte Thätigkeit errungen werden. Zwar Jedes an seinem Orte: in Deutschland die social-geistige Freiheit, weil hier die Geistesherrschaft vorherrschend, in Frankreich die social-sittliche Freiheit, weil hier die Willenskraft mächtig, – in England die social-politische Freiheit, weil hier der praktische Sinn am meisten entwickelt ist.“[28]Heß 1841, S. 150 f. Heß war zudem der Meinung, dass „in einer zukünftigen Revolution“ Russland „wieder dieselbe Rolle, wie in der jüngsten spielen“ könnte.[29]Damit spielte er auf die Rolle an, die Russland bei der Befreiung Europas von der Napoleonischen Herrschaft und in der anschließenden Restaurationsepoche gespielt hatte. Er hatte auch keinen Zweifel daran, dass sich bei einem von ihm erwarteten Konflikt zwischen England und Rußland Deutschland an die Seite des Fortschritts und damit Englands stellen würde, denn „wir Europäer [hätten] zwischen selbständiger Wiedergeburt oder russischer Abhängigkeit zu wählen“.[30]Heß 1841, S. 177. Das fünfte Kapitel heißt denn auch folgerichtig: „Deutschland, Frankreich und England. Unsere Zukunft oder die social-politische Freiheit.“[31]Heß 1841, S. 153.

„Statt an das Kommen eines Messias – wie im traditionellen Judentum – glaubte Heß, dass ein innerweltliches messianisches Zeitalter begonnen habe, in dem in naher Zukunft unter dem Zeichen des Sozialismus alle Menschen und Nationen im Einklang leben könnten.“[32]Reuter, Ursula: Moses Heß, in: Internetportal Rheinische Geschichte.

Dies Konzept der „Triarchie“ könnte man als Keim ansehen, aus dem kurze Zeit später die marxistische Vorstellung einer Weltrevolution erwachsen sollte.[33]Die drei Nationen stellte Heß hier ausdrücklich gegen die fünf eurasischen Großmächte der „Pentarchie“: Großbritannien, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland, die nach dem Sieg … Continue reading Aber auch die Idee eines friedlichen Zusammenlebens aller europäischen Völker, wie es die EU zum Ziel hat oder die UNO für die gesamte Welt anstrebt, kann daraus abgelesen werden. Zumindestens übernahm Engels diesen Dreiklang, indem er 1843 über die Herausbildung der kommunistischen Programme in den drei besagten Ländern schrieb:

„Die Engländer kamen zu dem Ergebnis praktisch, durch die rasche Zunahme des Elends, der Demoralisierung und des Pauperismus in ihrem Vaterlande; die Franzosen politisch, indem sie zunächst politische Freiheit und Gleichheit forderten und, als sie dies unzureichend fanden, ihren politischen Forderungen auch noch die Forderung nach sozialer Freiheit und sozialer Gleichheit hinzufügten; die Deutschen wurden philosophisch zu Kommunisten, durch Schlußfolgerungen aus ersten Prinzipien.“

Diese Schlussfolgerungen empfand Engels als „um so eindrucksvoller, als jede der drei erwähnten Nationen unabhängig von den anderen dazu gelangt ist; es kann keinen stärkeren Beweis als diesen geben, daß der Kommunismus nicht bloß die Konsequenz aus der besonderen Lage der englischen oder einer beliebigen anderen Nation ist, sondern eine notwendige Folgerung, die aus den Voraussetzungen, wie sie in den allgemeinen Bedingungen der modernen Zivilisation gegeben sind, unvermeidlich gezogen werden muß.“[34]Friedrich Engels: „Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent.“ [„The New Moral World“ Nr. 19 vom 4. November 1843], in: MEW 1, S. 480 f. Selbst Lenin stellte diesen … Continue reading

Für Heß vertraten die Länder der Triarchie den Fortschritt, während Russland die Reaktion repräsentierte. Er sah auch schon einen Konflikt zumindest zwischen England und Russland voraus.

Marx und Engels folgten in der Einschätzung von Russland Moses Heß. Allerdings schlugen sie England und Preußen ebenfalls zur Reaktion, so dass vor allem Engels in der 1848er Revolution entschieden für einen Krieg der deutschen Revolutionäre gegen diese drei Länder plädierte, womit er die demokratisch-revolutionären Kräfte in Deutschland in geradezu grotesker Weise überschätzte.[35]Siehe z.B. „Der dänisch-preußische Waffenstillstand“, in „Neue Rheinische Zeitung“ vom 10. September 1848 (MEW 5, S. 393-397; hier S. 397). Siehe dazu auch Koenen 22018, S. 415. Der Militäreinsatz eines dieser Mächte, nämlich Preußens, reichte wenig später völlig aus, der Revolution den Garaus zu machen.

Im selben Jahr 1841, als Moses Heß die eben zitierte „europäische Triarchie“ herausbrachte, wonach die menschliche Geschichte ganz im Hegelschen Sinne eine göttliche Heilsgeschichte darstellte, reichte Marx seine Dissertation ein, die im nächsten Beitrag näher untersucht wird. Soviel aber schon jetzt: Marx war zu diesem Zeitpunkt bereits entschiedener Atheist.[36]Heß bezeichnete sich selbst in seinem Tagebuch schon 1836 als „Atheist“, womit er sagen wollte, dass er seinen Glauben verloren hatte (zitiert nach Hunt 2013, S. 101). Dennoch blieb für ihn bis … Continue reading Für ihn war die „oberste Gottheit“ „das menschliche Selbstbewußtsein“, neben dem kein anderer Gott sein sollte.[37]Marx: Dissertation, in: MEW 40, S. 262. Aber er war ein ebenso spekulativer Junghegelianer wie Moses Heß und wie dieser auf der Suche nach der Aufhebung der menschlichen Entfremdung.[38]Siehe zu dem Einfluss von Bruno Bauer auf den Entfremdungsbegriff bei Marx den vorherigen Beitrag und vor allem Rosen 1977. Mit dem großen Unterschied, dass Heß in der proletarischen Revolution und der Aufhebung des Privateigentums schon das Mittel zur Aufhebung der Entfremdung gefunden zu haben glaubte,[39]Siehe Rosen 1983, S. 44 f. Siehe ebendort auch die Konzepte von Entfremdung bei Hegel (S. 37 ff.) und Feuerbach (S. 41 f.). Zur Entfremdung bei Heß und seines Einflusses auf Marx siehe ebd., S. 137 … Continue reading während Marx zu diesem Zeitpunkt den Kommunismus noch ablehnte.

Heß formulierte in seiner „Triarchie“ auch das Ziel der Philosophie ganz klar: „Die bisherige Philosophie hat sich nur auf das, was da ist, gewesen und geworden, nicht auf das, was wird, bezogen“. Daran schloss er die Forderung für eine „Philosophie der That“[40]Heß 1841, S. 12. an. Diese Forderung hat große Ähnlichkeit mit dem berühmten Satz von Marx, den dieser 1845 notierte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern,[41]Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: MEW, Bd. 3, S. 533 (Hervorh. Im Original). Bei Heß ist die Aussage viel klarer. Er will eine Philosophie, die Begründungen liefert für Handlungen in der … Continue reading worin für Engels „der geniale Keim der neuen Weltanschauung [des dialektischen Materialismus RS] niedergelegt ist“[42]MEW 3, S. 547, Anm. 1. Dieser Gedanke, dass die Philosophie die Welt verändern muss, zieht sich durch alle 11 Feuerbach-Thesen von Marx. An den Aussagen von Moses Heß über die „Philosphie der That“ kann man nun sehr gut erkennen, dass diese Aussage überhaupt keine Feststellung darüber erlaubt, ob die zugrunde liegende Philosophie materialistisch oder idealistisch ist. Heß war zu dem Zeitpunkt nämlich noch entschieden idealistisch, denn für ihn war „die Geschichte“ immer noch „eine That des Weltgeistes“,[43]Heß 1841, S. 15. während Marx 1845 schon materialistisch dachte.

 

Die Zusammenarbeit mit Karl Marx

Im Jahre 1841 kam es zum ersten Zusammentreffen der Junghegelianer Heß und Marx. Der Ältere schilderte in einem Brief, den er 1841 an seinen Freund Berthold Auerbach schrieb, den Eindruck, den der junge Mann auf ihn gemacht hatte, mit folgenden Worten:

„Du kannst Dich darauf gefaßt machen, den größten, vielleicht den einzigen jetzt lebenden eigentlichen Philosophen kennenzulernen, […] Dr. Marx, so heißt mein Abgott […]; er verbindet mit dem tiefsten philosophischen Ernst den schneidensten Witz; denke dir Rousseau, Voltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereinigt, ich sage, vereinigt, nicht zusammengeschmissen – so hast Du, Dr. Marx.“[44]Silberner 1959, S. 79 f. (zit. nach Rosen 1983, S. 216; s.a. Weiß 2013, S. 21).

Wohl kein anderer Zeitgenosse hat so treffend den Eindruck von Genialität beschrieben, den Marx im persönlichen Kontakt zu verbreiten wusste, wie der sechs Jahre Ältere.

Heß war maßgeblich beteiligt an der Gründung der Rheinischen Zeitung. Nachdem sich genügend Geldgeber gefunden hatten, die 30.000 Taler aufbrachten, wurde die Zeitung als Kommanditgesellschaft am 1. Januar 1842 gegründet.[45]Weiß 2015, S. 77-80. Nach Gabriele Teichmann waren es drei Fraktionen, die sich hier zusammen gefunden hatten: „Die Wirtschaftsliberalen, […] die Junghegelianer mit ihrer Fundamentalkritik an Religion, Staat und Gesellschaft […] und die Sozialkritiker mit Moses Hess als wichtigsten Sprachrohr.“[46]Zitiert nach Weiß 2015, S. 80.

Schon hier zeigte sich, dass die Zusammenarbeit zwischen Vertretern der Bourgeoisie und den selbsternannten Vertreter des Proletariats schon vor Beginn der bürgerlichen Revolution äußerst angespannt war. So schrieb Moses Heß an seinen Freund Auerbach: „[I]ch kann mit den Geldaristokraten und ihrem Anhang nicht harmonieren“. Deshalb rief er empört aus: „Zum Teufel mit diesen Hunden! Sie müssen alle aufgeknüpft werden, sie besitzen nichts als Geld und Hochmut.“ Und beruhigend fuhr er fort: „Es würden nur wenige unschuldig gerichtet werden“.[47]Zitiert nach Weiß 2015, S. 85 f.

Den Geldgebern und Verlegern wiederum erschien Heß zu radikal, so dass sie den weniger radikal erscheinenden Karl Marx zum Chefredakteur machten, nachdem Heß diesen zum Blatt geholt hatte[48]Die Herausgeber der Marx-Engels-Werke bemerkten dazu folgendes (MEW 40, S. 667, Anm. 57): „Marx begann seine Mitarbeit an der ‚Rheinischen Zeitung’ im April 1842. Eine Reihe Artikel, die er … Continue reading und er am 15. Oktober 1842 in die Redaktion eingetreten war.[49]Weiß 2015, S. 88; s.a. Cornu, Mönke 1961, S. XXIX.

Man geht davon aus, dass in den Jahren 1841-42 ein reger Meinungsaustausch zwischen Heß und Marx stattgefunden hat. So soll der Jüngere auch an dem von Heß in Köln ins Leben gerufenen Lesekreis teilgenommen haben, in dem vor allem französische sozialistische Literatur (von Pierre-Joseph Proudhon, Louis Blanc u.a.) studiert wurde. Angestoßen wohl von dem vieldiskutierten Buch von Lorenz Stein[50]Ernst Nolte schreibt dazu: „Dem großen deutschen Publikum waren freilich sowohl Hess wie Weitling noch 1842 so gut wie unbekannt. Der erste, der diesem Publikum in der Sprache Hegels eine … Continue reading („Socialismus und Communismus im heutigen Frankreich“), der die Kenntnisse in Paris als Spitzel des preußischen Innenministeriums erlangt hatte.[51]Weiß 2015, S. 102. Marx scheint aber von der Lektüre nicht sonderlich beeindruckt gewesen zu sein, denn als späterer Chefredakteur der „Rheinischen Zeitung“ hat er in einem Brief an Arnold Ruge deutlich gemacht, „daß ich das Einschmuggeln kommunistischer und sozialistischer Dogmen, also einer neuen Weltanschauung, in beiläufigen Theaterkritiken etc. für unpassend, ja für unsittlich halte und eine ganz andere und gründlichere Besprechung des Kommunismus, wenn er einmal besprochen werden solle, verlange.“[52]Brief von Karl Marx an Arnold Ruge vom 30. November 1842 (MEW 27, S. 412); s. a. Koenen 22018, S. 236 f. Schon im Mai 1842 wandte sich Marx in einem unveröffentlichten Manuskript ganz entschieden … Continue reading In der Kölner Redaktion der „Rheinischen Zeitung“[53]MEW 1, S. 635. war es auch Ende 1842 zum ersten flüchtigen Zusammentreffen von Marx und Engels, den Heß ebenfalls als Mitarbeiter für das Blatt gewonnen hatte, gekommen. Da die beiden späteren Busenfreunde zu diesem Zeitpunkt noch sehr unterschiedliche Vorstellungen besaßen, verlief dieses Zusammentreffen nach den Worten von Engels „sehr kühl“.[54]Brief von Engels an Franz Mehring von [Ende April 1895], in: MEW 39, S. 473. Als Grund führte Engels hier an, dass er „mit den Bauers [Bruno und Edgar Bauer RS] korrespondierte,“ und deshalb … Continue reading

Wesentlich besser verstand sich Engels mit Moses Heß, der ihn zur gleichen Zeit ebenfalls in Köln kurz vor seiner Abreise zu seinem zweijährigen Aufenthalt in Manchester vom Kommunismus überzeugte. Hierzu bedurfte es nur eines Gespräches.[55]So berichtete Moses Heß am 19. Juni 1843 stolz an seinen Freund Berthold Auerbach: „Wir [Heß und Engels] sprachen über die Zeitfragen, und er […] schied von mir als allereifrigster … Continue reading Da hatte er es bei Marx wesentlich schwerer, bei dem diese Überzeugungsarbeit über ein Jahr dauerte, trotz der engen Zusammenarbeit der beiden zuerst in der Redaktion der „Rheinischen Zeitung“ und dann im Pariser Exil.

Unter Marx als Chefredakteur radikalisierte sich die „Rheinische Zeitung“ aber auch, so dass selbst sein Austritt aus der Redaktion zum 17. März 1843 das Verbot zum 31. März nicht mehr abwenden konnte. Bis dahin war der Redaktion eine bemerkenswerte Auflagensteigerung gelungen: von 885 auf 3.400 Exemplare.[56]Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Rheinische_Zeitung. Zu den Daten siehe: Raddatz 1986, S. 146. Nach Gerd Koenen war es das Eintreten für ein „geeintes Deutschland“ – damals in der Tat eine revolutionäre Forderung – und die Angriffe der Zeitung gegen den Zaren, die das Verbot verursachten.[57]Koenen 22018, S. 236.

Moses Heß erlebte das schon nicht mehr mit, da er im Dezember 1842 nach Paris gereist war, um für die Zeitung von dort zu berichten. Hier blieb er auch nach dem Verbot und Karl Marx folgte im Oktober 1843 mit seiner schwangeren Frau, wie schon viele andere zuvor und danach – man denke etwa an Heinrich Heine, Arnold Ruge und andere. Sie alle wohnten nun in enger Nachbarschaft und ein reger Austausch fand zwischen ihnen statt. Marx war „noch ein Radikaldemokrat mit Restsympathien für den Liberalismus“.[58]Gerber 2020, S. 54. Erst hier in Paris – Ende 1843 bis Anfang 1844 – stimmten ihn die Gespräche mit und die Schriften von Moses Heß schließlich um.

Aber erstmal gab Marx in Paris mit Arnold Ruge die Deutsch-Französischen Jahrbücher heraus, an denen auch Heß und Engels, der immer noch in England weilte, mitarbeiteten. Ziel war es, eine enge Zusammenarbeit der deutschen und französischen Revolutionäre zu erreichen – allein die Franzosen machten da nicht mit. So war das einzige Doppelheft, das im Jahre 1844 erschien, mit Beiträgen von deutschen Emigranten gefüllt. Heinrich Heine und Georg Herwegh steuerten je ein Gedicht bei. Engels äußerte sich zur Nationalökonomie und schrieb eine Buchrezension, Marx äußerte sich zur Hegelschen Rechtsphilosophie und zur Judenfrage und Moses Heß steuerte Briefe aus Paris bei.[59]Engels, Friedrich: „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“, in: MEW, Bd. 1, S. 499-524 und „Die Lage Englands.“ „Past and Present“ by Thomas Carlyle, London 1843, ebd., S. … Continue reading

Es ist heute umstritten, wer wen stärker beeinflusst hat.[60]Siehe dazu Rosen 1983, Kap. 6, S. 95 ff. und Mohl 2015, S. 308. Wie auch immer es gewesen sein mag, sicher ist, dass Heß vor Marx Kommunist war und die meisten Grundgedanken des späteren Marxismus schon niedergeschrieben hatte, bevor Marx und Engels Kommunisten geworden waren. Sicher ist auch, dass Marx die entsprechenden Werke von Heß kannte.[61]Auf den Einfluss von Heß hat Marx andeutungsweise hingewiesen. In seinen „Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844“, die aber erst posthum veröffentlicht wurden, verwies er auf Moses … Continue reading

Zvi Rosen hat sich jedenfalls eindeutig positioniert und sogar die Meinung, für die vieles spricht, vertreten,

„daß ohne den Ideenreichtum und den sozialistischen Gehalt des Denkens von Hess die Marxsche Theorie undenkbar ist und daß zu ihrer Herausbildung wesentlich dessen Synthese von Sozialismus und Philosophie beigetragen hat.“[62]Rosen 1983, S. 8.

Annäherung der Standpunkte: Heß wird Atheist und Marx Kommunist

Aus dem Duo entsteht ein Trio: Friedrich Engels kommt hinzu

Aus drei mach zwei: das Zerwürfnis mit Heß

Vater des Zionismus und der Sozialdemokratie: das weitere Leben von Moses Heß

Moses Heß im Widerstreit der Meinungen

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eine kurze und prägnante Zusammenfassung findet sich in: Reuter, Ursula: Moses Heß.

Das wichtigste Werk über Moses Heß haben Auguste Cornu und Wolfgang Mönke im Jahre 1961 in der DDR herausgegeben. Darin haben sie eine Auswahl seiner philosophischen und sozialistischen Schriften aus der Zeit von 1837 bis 1850 veröffentlicht. Zusammen mit ihrer sachkundigen Einführung erlaubt dies Werk einen tiefen Einblick in die Entwicklung des Gedankengebäudes des Autors. Auguste Cornu (1888-1981) war ein französischer Historiker, der von 1951 bis zu seiner Emeritierung 1958 den Lehrstuhl für Kulturgeschichte an die Humboldt-Universität in Berlin innehatte. Im Jahre 1956 wurde für ihn die Marx-Engels-Forschungsstelle an der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) eingerichtet. Als Leiter der Arbeitsstelle wurde bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1976 Wolfgang Mönke (1927-1986) berufen. Es ist sehr erstaunlich, dass ihre umfangreichen Forschungen zu Moses Heß incl. Archivreisen in den Westen in der DDR möglich waren, vom Staat finanziert wurden und sie sogar ein Buch publizieren durften. Denn dieser „erste Kommunist“ in Deutschland (Engels) war ja von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest als Schöpfer des „reaktionären“ „wahren Sozialismus“ gebranntmarkt worden (siehe unten).

2 So haben es seine Freunde in der SPD auf seinen Grabstein meißeln lassen (s. Rosen 1983, S. 187). Erfreulicherweise gab es aber seit seinem 200. Geburtstag am 21.4.2012 eine Reihe neuer Veröffentlichungen über sein Leben: Im Jahre 2013 erschien eine vergleichende Studie von Mario Keßler unter dem Titel „Moses Hess and Ferdinand Lassalle: Pioneers of Social Emancipation.“ Von demselben Autor erschien im Jahre 2020 ein Aufsatz unter dem Titel „Engels’ Weggefährte Moses Hess im Widerstreit der Meinungen. Vom Frühmarxismus zur DDR“ in dem Sammelband „Friedrich Engels und die Sozialdemokratie“ (siehe Keßler 2020). Im Jahre 2015 erschien das gründliche Werk von Volker Weiß unter dem Titel „Moses Heß. Rheinischer Jude, Revolutionär, früher Zionist“; im Jahre 2020 folgte das Taschenbüchlein von Jürgen Wilhelm unter demselben Titel. Hier lautete der Untertitel: „Wegbereiter der Sozialdemokratie und visionärer Zionist.“ Dem Buch von Mario Keßler lagen zwei Vorträge zugrunde, die er auf zwei Konferenzen des Jerusalem Institute for Israel Studies in Jerusalem gehalten hatte: 2011 einen Vortrag über Lassalle auf der Konferenz „Jews and Revolutions: From Vormärz to the Weimar Republic“ und über Moses Hess auf der Konferenz im Jahre 2012 „Moses Hess between Socialism and Zionism.“ Dem Buch von Volker Weiß lag ebenfalls ein Vortrag zugrunde, den er 2012 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung gehalten hatte (s.a. Weiß 2013).
3 HKWM, Band 7/II, Sp. 1402 („Komplementarität“).
4 Jaecker 2002, Kap. 1.
5 Jaecker 2002, Kap. 2.2. Im selben Jahr war in den USA der 1. Zusatzartikel zur Verfassung verabschiedet worden, der vollständige Religionsfreiheit garantierte.
6 Jaecker 2002, Kap. 2.2.
7 Cornu, Mönke 1961, S. XIII f.
8 Zitiert nach Mohl 2015, S. 307.
9 Zitiert nach Weiß 2015, S. 26.
10 Aus „Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution,“ zitiert nach Wikipedia: Johann Gottlieb Fichte.
11 Siehe dazu Clark 2007. Die Malthusianischen Falle, die auch für das Tier- und Pflanzenreich existiert, bedeutet, dass jede Verbesserung der Ernährungssituation zu einer Zunahme der Population führt, wodurch der Lebensstandards wieder auf das vorhergehende Niveau oder sogar darunter fällt (ebd., S. 20). Hierzu wird es einen gesonderten Beitrag geben.
12 Jaecker 2002, Kap. 3.2.
13 [Engels, Friedrich]: [Der Status quo in Deutschland], in: MEW 4, S. 56.
14 Jaecke 2002, Kap. 3.6.
15 Zitiert nach Wikipedia: Saul_Ascher.
16 Gewidmet hatte er es „allen gottesfürchtigen Regierungen“ (Heß 1837, S. 5).
17 S. dazu auch Weiß 2015, S. 44.
18 Heß 1837, S. 198.
19 Heß 1837, S. 258 f.
20 Heß 1837, S. 304.
21 Heß 1837, S. 310.
22 Heß 1837, S. 317 f. (Hervorh. im Original).
23 Heß 1837, S. 311. Dem 3. Kapitel hatte Heß die Überschrift gegeben „Das neue Jerusalem und die letzten Zeiten.“
24 Heß spricht in diesem Werk noch nicht von Klassen, aber die sozialen Gegensätze „der Niedern und Hohen, der Plebejer und Patrizier, der Armen und Reichen“ (ebd., S. 331) kann man durchaus als Klassen auffassen.
25 Heß 1837, S. 327 u. 331 f. (Hervorh. im Original).
26 Um die Jahreswende 1838/39 veröffentlichte der Schneidergeselle Wilhelm Weitling sein Werk „Die Menschheit. Wie sie ist und wie sie sein sollte“, indem er gleich eine Ordnungsstruktur – gleichsam den Gesellschaftsvertrag – für eine kommunistische Gesellschaft aufstellte. Auch bei ihm basierte damals das Ganze noch auf der christlichen Nächstenliebe. Im Bund der Kommunisten sollten Heß, Weitling, Marx und Engels dann ja aufeinandertreffen.
27 Engels schrieb denn auch im Jahre 1843, dass „Dr. Heß […] in der Tat der erste Kommunist in der Partei war“. (Engels, Friedrich: „Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent.“ In: The New Moral World Nr. 19 vom 4. November 1843 in: MEW 1, S. 494.).
28 Heß 1841, S. 150 f.
29 Damit spielte er auf die Rolle an, die Russland bei der Befreiung Europas von der Napoleonischen Herrschaft und in der anschließenden Restaurationsepoche gespielt hatte.
30 Heß 1841, S. 177.
31 Heß 1841, S. 153.
32 Reuter, Ursula: Moses Heß, in: Internetportal Rheinische Geschichte.
33 Die drei Nationen stellte Heß hier ausdrücklich gegen die fünf eurasischen Großmächte der Pentarchie: Großbritannien, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland, die nach dem Sieg über Napoleon die Restauration in Europa durchgeführt hatten. Sie sorgten zwar für eine lange Friedenszeit in Europa, aber auch für die Unterdrückung aller freiheitlichen Bestrebungen. Auch bei Marx und Engels bezog sich die Erwartung der Weltrevolution vor allem auf die entwickeltsten Länder der Mitte des 19. Jahrhunderts, also neben den dreien der Triarchie noch auf Österreich und die USA. Und tatsächlich schien sich dieses Konzept ja in der bürgerlichen Revolution von 1848/49 zu bewahrheiten, als sich gegenseitig befeuernd von Paris ausgehend fast im gesamten Europa (außer in England) innerhalb kürzester Frist Aufstände losbrachen. Eine solche Situation hat sich aber – außer vielleicht nach dem 1. Weltkrieg und bei der Arabellion 2010/11, als fast die gesamte arabische Welt in Flammen zu stehen schien – seither nicht wiederholt, da die Verhältnisse in den verschiedenen Ländern zu unterschiedlich sind und in demokratischen Ländern überhaupt keine revolutionäre Situation mehr aufgetreten ist, wenn man hier von den Jahren nach dem 1. Weltkrieg absieht. So bedeutet die Vorstellung einer Weltrevolution nichts anderes als die Verschiebung der Revolution auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.

Das Thema Revolutionserwartung und ihre Realisierung werden in einem gesonderten Beitrag untersucht. Hier nur schon so viel. Es hat in den fast 200 Jahren, seit zum ersten Male eine proletarische Revolution mit dem Ziel der Abschaffung des Privateigentums prophezeit worden war, kein einziges derartiges Ereignis in der Welt gegeben. Die Oktoberrevolution war keine Revolution und schon gar keine proletarische, sondern ein Staatsstreich einer kleinen entschlossenen Minderheit. Die einzigen Aufstände von Arbeitern, die im 20. Jahrhundert stattfanden (hier sei nur an den Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und die Solidarność in Polen, die an dem Zusammenbruch des Ostblocks einen wesentlichen Anteil hatte, erinnert), richteten sich gegen kommunistische Regimes.

34 Friedrich Engels: „Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent.“ [„The New Moral World“ Nr. 19 vom 4. November 1843], in: MEW 1, S. 480 f. Selbst Lenin stellte diesen Dreiklang noch als die „drei Quellen und Bestandteile des Marxismus“ heraus (Lenin Werke 19, S. 3-9, s. dazu auch Weiß 2013, S. 26).

Und Engels schrieb noch 1883 im Vorwort zur 3. Auflage seines Werkes „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“: „Erst indem die in England und Frankreich erzeugten ökonomischen und politischen Zustande der deutsch-dialektischen Kritik unterworfen wurden, erst da konnte ein wirkliches Resultat gewonnen werden. Nach dieser Seite hin ist also der wissenschaftliche Sozialismus kein ausschließlich deutsches, sondern ebensosehr ein internationales Produkt.“ (MEW 19, S. 187).

35 Siehe z.B. „Der dänisch-preußische Waffenstillstand“, in „Neue Rheinische Zeitung“ vom 10. September 1848 (MEW 5, S. 393-397; hier S. 397). Siehe dazu auch Koenen 22018, S. 415.
36 Heß bezeichnete sich selbst in seinem Tagebuch schon 1836 als „Atheist“, womit er sagen wollte, dass er seinen Glauben verloren hatte (zitiert nach Hunt 2013, S. 101). Dennoch blieb für ihn bis zum Zusammentreffen mit Marx 1843/44 die Geschichte im Hegelschen Sinne eine göttliche Heilsgeschichte.
37 Marx: Dissertation, in: MEW 40, S. 262.
38 Siehe zu dem Einfluss von Bruno Bauer auf den Entfremdungsbegriff bei Marx den vorherigen Beitrag und vor allem Rosen 1977.
39 Siehe Rosen 1983, S. 44 f. Siehe ebendort auch die Konzepte von Entfremdung bei Hegel (S. 37 ff.) und Feuerbach (S. 41 f.). Zur Entfremdung bei Heß und seines Einflusses auf Marx siehe ebd., S. 137 ff. Insbesondere in der Frage der zentralen Rolle des Geldes bei der menschlichen Entfremdung übernimmt Marx die zentralen Annahmen von Heß (S. ebd., S. 144 ff.). Dies wird in den nächsten Kapiteln im Detail untersucht.
40 Heß 1841, S. 12.
41 Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: MEW, Bd. 3, S. 533 (Hervorh. Im Original). Bei Heß ist die Aussage viel klarer. Er will eine Philosophie, die Begründungen liefert für Handlungen in der Zukunft. Bei Marx weiß man nicht, was der Satz eigentlich bedeuten soll. Soll man auf die Interpretation verzichten und nur die Welt verändern oder meint Marx dasselbe, was Heß gemeint hatte? Verschärfend kommt hinzu, dass der Satz von Marx, so wie er auf uns gekommen ist, von Engels für die Veröffentlichung durch das Einfügen des Wortes „aber“ in der Bedeutung stark verändert wurde. Marx hatte geschrieben: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt, es kömmt drauf an sie zu verändern. (MEGA IV/3, 1998, S. 21 (Hervorh. Im Original).). Die 11 Thesen zu Feuerbach werden genauer in einem gesonderten Beitrag beleuchtet.
42 MEW 3, S. 547, Anm. 1.
43 Heß 1841, S. 15.
44 Silberner 1959, S. 79 f. (zit. nach Rosen 1983, S. 216; s.a. Weiß 2013, S. 21).
45 Weiß 2015, S. 77-80.
46 Zitiert nach Weiß 2015, S. 80.
47 Zitiert nach Weiß 2015, S. 85 f.
48 Die Herausgeber der Marx-Engels-Werke bemerkten dazu folgendes (MEW 40, S. 667, Anm. 57): „Marx begann seine Mitarbeit an der ‚Rheinischen Zeitung’ im April 1842. Eine Reihe Artikel, die er für diese Zeitung schrieb, sind im Band 1 unserer Ausgabe, S. 28-199, enthalten. Diese sowie die auf den Seiten 379-380, 385-393, 398-419 und 426-436 des vorliegenden Bandes gebrachten Arbeiten geben ein Gesamtbild der publizistischen Tätigkeit von Marx an der ‚Rheinischen Zeitung’.“

Die Unterstützung von Moses Heß hinderte Marx aber nicht daran, in einem „unvollendet gebliebene[n] Aufsatz“ (MEW 40, S. 667, Anm. 57) den Artikel seinen Proteges „Deutschland und Frankreich in bezug auf die Zentralisationsfrage“, der am 17. Mai 1842 in der „Rheinischen Zeitung“ erschienen war, ziemlich heftig zu kritisieren (MEW 40, S. 379 f.).

49 Weiß 2015, S. 88; s.a. Cornu, Mönke 1961, S. XXIX.
50 Ernst Nolte schreibt dazu: „Dem großen deutschen Publikum waren freilich sowohl Hess wie Weitling noch 1842 so gut wie unbekannt. Der erste, der diesem Publikum in der Sprache Hegels eine gründliche Kenntnis des französischen Sozialismus und Kommunismus verschaffte, war der sechsundzwanzigjährige Lorenz Stein, der in eben diesem Jahre nach einem längeren Aufenthalt in Frankreich sein Buch über den Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs veröffentlichte. Der Saint-Simonismus war zwar schon seit einem Jahrzehnt recht bekannt […]. Bei Stein aber war auch ausführlich von Fourier und den Fourieristen die Rede, von Lamennais und Louis Blanc, von Proudhon und Cabet. Und die Erzählung war in eine Philosophie oder Sozialtheorie eingekleidet, in der Begriffe wie ‚Proletariat’, ‚Gesellschaft’, ‚Industrie’ und ‚Klassen’ eine bedeutende Rolle spielten.“ (Nolte 1983a, S. 321 f.).
51 Weiß 2015, S. 102.
52 Brief von Karl Marx an Arnold Ruge vom 30. November 1842 (MEW 27, S. 412); s. a. Koenen 22018, S. 236 f. Schon im Mai 1842 wandte sich Marx in einem unveröffentlichten Manuskript ganz entschieden gegen den philosophischen Schluss, den Heß in einem Artikel in der „Rheinischen Zeitung“ vom 17. Mai 1842 gezogen hatte, nämlich dass jede „Staatsmacht etc. überflüssig“ sei (Marx, Karl: „Die Zentralisationsfrage.“ In: MEW 40, S. 380.). Und im Oktober desselben Jahren wandte er sich gegen die Behauptung der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“, dass die „Rheinische Zeitung“ dem Kommunismus huldigen würde, mit den Worten: „Die ‚Rheinische Zeitung‘, die den kommunistischen Ideen in ihrer jetzigen Gestalt nicht einmal theoretische Wirklichkeit zugestehen, also noch weniger ihre praktische Verwirklichung wünschen oder auch nur für möglich halten kann, wird diese Ideen einer gründlichen Kritik unterwerfen.“ (Marx, Karl: „Der Kommunismus und die Augsburger ‚Allgemeine Zeitung’.“ In: „Rheinische Zeitung“ Nr. 289 vom 16. 0ktober 1842, in: MEW 1, S. 108; Hervorh. im Original.).
53 MEW 1, S. 635.
54 Brief von Engels an Franz Mehring von [Ende April 1895], in: MEW 39, S. 473. Als Grund führte Engels hier an, dass er „mit den Bauers [Bruno und Edgar Bauer RS] korrespondierte,“ und deshalb „galt ich“ bei Marx, der mit beiden schon gebrochen hatte, „für ihren Alliierten“.
55 So berichtete Moses Heß am 19. Juni 1843 stolz an seinen Freund Berthold Auerbach:

„Wir [Heß und Engels] sprachen über die Zeitfragen, und er […] schied von mir als allereifrigster Kommunist.“

(Silberner 1959, S. 103. Hier zitiert nach Rosen 1983, S. 95 f.).

56 Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Rheinische_Zeitung. Zu den Daten siehe: Raddatz 1986, S. 146.
57 Koenen 22018, S. 236.
58 Gerber 2020, S. 54.
59 Engels, Friedrich: „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“, in: MEW, Bd. 1, S. 499-524 und „Die Lage Englands.“ „Past and Present“ by Thomas Carlyle, London 1843, ebd., S. 525-549; Marx, Karl: „Hegelsche Rechtsphilosophie, Einleitung“, in: ebd., S. 378-391 und „Zur Judenfrage“, in: ebd., S. 347-377. Auf diese Aufsätze wird in gesonderten Beiträgen eingegangen, weil sie für die Herausbildung des Marxismus von eminenter Bedeutung sind.
60 Siehe dazu Rosen 1983, Kap. 6, S. 95 ff. und Mohl 2015, S. 308.
61 Auf den Einfluss von Heß hat Marx andeutungsweise hingewiesen. In seinen „Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844“, die aber erst posthum veröffentlicht wurden, verwies er auf Moses Heß und seine in der Schweiz veröffentlichen Aufsätze (MEW 40, S. 468). In Anm. 102 heißt es dazu: „Der von Georg Herwegh herausgegebene Sammelband „Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz.“ Erster Teil (Zürich und Winterthur 1843) brachte von Moses Heß die Artikel „Sozialismus und Kommunismus“ [Heß 1843a], „Philosophie der Tat“ [Heß 1843c] und „Die Eine und die ganze Freiheit!“ [Heß 1843b]. Alle drei Artikel erschienen anonym, die beiden ersten jedoch mit dem Zusatz „Vom Verfasser der Europäischen Triarchie“ (MEW 40, S. 673). Die drei Aufsätze, wie auch zahlreiche andere Arbeiten von Heß, wurden abgedruckt in Cornu, Mönke 1961, S. 197-231. Auch den Aufsatz von Engels „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ erwähnte Marx an dieser Stelle zustimmend. Engels dagegen ging auf die Bedeutung von Heß überhaupt nicht ein. Engels behauptete sogar, das von „den öffentlichen Vertretern […] wenigstens fast kein einziger anders als durch die Feuerbachsche Auflösung der Hegelschen Spekulation zum Kommunismus gekommen“ sei (Engels: Lage der arbeitenden Klassen, in: MEW 2, S. 233). Dies jedenfalls trifft auf Marx und Engels nicht zu.
62 Rosen 1983, S. 8.