Eduard Bernstein (1850-1932) war einer der radikalsten marxistischen Denker überhaupt und einer der wichtigsten und einflussreichsten Theoretiker der SPD. Radikal war er nicht im Sinne von radikalen politischen Vorstellungen, sondern er war radikal an den Tatsachen orientiert. Er ging von den Fakten aus und scherte sich nicht darum, ob die Ergebnisse mit den Meinungen von Marx und Engels in Einklang standen, sondern nur darum, ob sie die Wirklichkeit erklären können. Als enger Mitarbeiter von Friedrich Engels in London, der ihn auch zu seinem Nachlassverwalter bestimmte, schrieb er zusammen mit Karl Kautsky 1891 das Erfurter Programm der SPD, das die zentralen Kernaussagen des Marxismus enthielt.

Nach dem Tode von Friedrich Engels legte Bernstein den Grundstein für den Reformismus, der besagt, dass der Sozialismus auf demokratischem Wege erreicht werden und durch Reformen im Kapitalismus die Lage der Arbeiter verbessert werden könnte. Er lehnte die Kriegskredite ab und wandte sich gegen die Unterstützung des Ersten Weltkrieges durch die Führung der SPD. Er gründete zusammen mit Kautsky und anderen die USPD, trat aber wie dieser später wieder zur SPD über.

Das Leben von Eduard Bernstein

Die frühen Jahre und die Zusammenarbeit mit Friedrich Engels

Eduard Bernstein wurde am 6. Januar 1850 in Schöneberg – heute ein Ortsteil von Berlin – geboren. Als einer der wenigen Theoretiker des Sozialismus entstammte Bernstein der Arbeiterklasse. Sein Vater war Lokomotivführer und gehörte der jüdischen Reformgemeinde an. Das Gymnasium musste er mit 16 Jahren aus finanziellen Gründen verlassen. Von 1866 bis 1878 arbeitete er als Bankkaufmann. 1872 trat er der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) – den „Eisenachern“ – bei, die 1869 von Wilhelm Liebknecht (1826-1900) und August Bebel (1840-1913) in Eisenach gegründet worden war. Bernstein bereitete zusammen mit den beiden Gründern den Einigungsparteitag der SDAP mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV), der von Lassalle (1825-1864) 1863 gegründet worden war, im Jahre 1875 in Gotha vor. Das dort von der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), wie sie nun hieß, verabschiedete Programm wurde von Karl Marx intern scharf kritisiert, weil sich die Ansichten von Lassalle, die Marx und Engels entschieden ablehnten, zu stark durchgesetzt hätten.[1]Marx schickte die 20-seitige Kritik nur an einige Gewährsleute in der Partei. Engels veröffentlichte die interne Kritik posthum im Jahre 1891 (MEW 22, S. 13-32), um die zu der Zeit geplante … Continue reading Anfangs war Bernstein eher ein Anhänger von Lassalle und vor allem von Eugen Dühring. Erst Engels’ „Anti-Dühring“ aus dem Jahre 1877 überzeugte ihn schließlich von der Richtigkeit der Vorstellungen von Marx und Engels.

1877 trat Bernstein aus der jüdischen Gemeinde aus, setzte sich aber später gegen den aufkommenden Antisemitismus ein. So unterstützte er während der Weimarer Republik verschiedene Organisationen, die sich für die Ansiedlung von Juden in Palästina engagierten.

1878 wurde er Privatsekretär des sozialdemokratischen Mäzens Karl Höchberg (1853-1885) und arbeitete zur Zeit der Bismarckschen Sozialistengesetze (1878-1890), in der die Aktivitäten der Sozialdemokratie außerhalb des Reichstags verboten waren, zunächst in Zürich. Zwischen 1880 und 1890 war Bernstein Redakteur der Zeitung „Der Sozialdemokrat“. 1888 wurde er auf preußisches Betreiben aus der Schweiz ausgewiesen und lebte von da an in London. Dort wurde er der engste Mitarbeiter von Friedrich Engels (1820-1895). Engels bestimmte ihn sogar zu seinem Nachlassverwalter. Nachdem im Jahre 1890 die Sozialistengesetze aufgehoben wurden, benannte sich die SAP in „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (SPD) um. 1891 gab sich die Partei in Erfurt ein neues Programm, das Karl Kautsky zusammen mit Eduard Bernstein verfasst hatte und das nun weitestgehend den Vorstellungen von Marx und Engels entsprach.

Eduard Bernstein 1895 (Foto: Deutsches Historisches Museum, Berlin)

Die Begründung des Reformismus durch Bernstein

Nach dem Tod von Engels im Jahre 1895 verfügte Bernstein über die unveröffentlichten Texte der beiden Freunde. Einige dieser Manuskripte bis hin zu einer Auswahl des Briefwechsels der beiden veröffentlichte er in den folgenden Jahren. In dieser Zeit erkannte der Parteitheoretiker, dass die Verhältnisse sich ganz anders entwickelt hatten, als Marx und Engels es prophezeit hatten. Besonders deutlich als Wunschvorstellung hatte sich die Erwartung der beiden, die sie seit den 1840er Jahre nicht müde geworden waren zu wiederholen, entpuppt, dass in Deutschland und anderen Ländern Europas die proletarische Revolution kurz bevorstände. Dass dies eine „Illusion“ war, hatte Engels in seiner letzten Veröffentlichung[2]Friedrich Engels: „Einleitung [zu Karl Marx’ ‚Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850’ (1895)]“, in: MEW 22, S. 509-527. eingeräumt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Bernstein sich durch diese Ausführungen, die vielfach als Engels „politisches Testament“ [3]Siehe zu den Auseinandersetzungen um die Bedeutung und Interpretation dieses Textes Nippel 2020. angesehen wurden, darin bestärkt fühlte, nach den Ursachen dieser „Illusion“[4]MEW 22, S. 513. zu suchen.

In dieser kurzen Einleitung zu einigen wieder entdeckten alten Veröffentlichungen von Karl Marx über die Klassenkämpfe in Frankreich Ende der 1840er Jahre, denen Engels noch zwei gemeinsame Artikel hinzugefügte,[5]MEW 22, S. 645, Anm. 434. hatte dieser gleich zu Beginn darauf hingewiesen, was seiner Meinung nach den Kern des Marxismus ausmachte. Nämlich, dass es für Marx darum gegangen wäre, für eine gesellschaftliche „Entwicklung den inneren Kausalzusammenhang nachzuweisen“, was bedeute, „die politischen Begebenheiten zurückzuführen auf Wirkungen von in letzter Instanz ökonomischen Ursachen.“[6]MEW 22, S. 510. Dies war genau der Ansatz, den Bernstein verfolgte und auf die Jahrhundertwende anwandte, wobei dieser ergänzte, dass es die besondere Leistung von Marx gewesen wäre, dass er „zurückgegangen ist auf die Geschichte der menschlichen Arbeitsmittel, sie zurückgeführt hat auf die Entwicklung des Werkzeugs, dieser »Verlängerung der Organe des Menschen«.“[7]Strohschneider 2019, S. 75. Diese Sicht der Geschichte wird als „materialistische Geschichtsauffassung“ oder auch als Historischer Materialismus bezeichnet.

Engels erinnerte in der „Einleitung“ daran, dass Marx damals durch seine ökonomischen Studien herausgefunden habe, dass die Revolutionen von 1848/49 eine Folge der damaligen Wirtschaftskrise waren, woraus sie beiden den Schluss gezogen hätten: „‚Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.’“[8]MEW 22, S. 511. Dieser Text entstammt einem gemeinsamen Artikel von Marx und Engels aus dem Jahre 1850, den Engels in der Veröffentlichung den Texten von Marx angefügt hatte (s. MEW 7, S. 592, Anm. … Continue reading Wohlgemerkt, Engels spricht hier nicht von einer bürgerlichen Revolution, sondern vom „endgültigen Sieg des Proletariats.“[9]MEW 22, S. 512. Und das zu einem Zeitpunkt als mit Ausnahme von England praktisch noch gar kein Proletariat – wenn man darunter, wie Marx und Engels dies taten, Arbeiter in der großen Industrie versteht – existierte. Nun waren schon in den 45 Jahren seither etliche Krisen aufgetreten, ohne dass sich diese Erwartung erfüllt hätte, wie Engels selber eingestand: „Die Geschichte hat aber auch uns unrecht gegeben, hat unsere damalige Ansicht als eine Illusion enthüllt.“[10]MEW 22, S. 513. Engels erklärte die Ursachen ihres Irrtums mit einem weiteren Irrtum, nämlich, dass die „Geschichte“ […] „uns […] klargemacht“ hat, „daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“.[11]MEW 22, S. 515. So sympathisch es ist, dass Engels am Ende seines Lebens diese Fundamentalillusion von Marx und sich selber erkannt und eingestanden hat, so sehr gleicht seine Begründung dafür einer Bankrotterklärung. Denn wie konnte denjenigen, die von sich behaupteten, die ökonomischen Entwicklungsgesetze des Kapitalismus enthüllt zu haben, entgangen sein, dass „der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“? Ein Blick auf die Insel, auf der sie Jahrzehnte lang selbst gelebt hatten, hätte genügt, ihnen klar zu machen, wie rückständig der Kontinent – insbesondere die deutschen Länder – gegenüber England zumindestens bis 1880 war, wo die Revolution ja auch noch nicht ausgebrochen war. Offensichtlich hatten sie die von ihnen entdeckten Gesetze nicht korrekt angewandt und waren stattdessen einem Wunschdenken verfallen.

Man kann die nun folgenden Überlegungen von Bernstein lesen als den Versuch, die Ursachen dieser Illusionen zu ergründen, um sich und die Partei von ihnen zu befreien und zu einem realistischen Bild der zukünftigen Entwicklung zu gelangen. Dies tat er in radikaler Konsequenz. Dabei sah Bernstein sich in der Tradition von Marx und Engels, weil er ihre Methode benutzte, wenn er damit auch zu gegensätzlichen Ergebnissen gelangte, weshalb seine Gegner im absprachen, ein Marxist zu sein.[12]Bernstein selber formulierte diesen Widerspruch, einerseits die Methode von Marx zu benutzen aber anderseits zu anderen Schlussfolgerungen zu kommen als dieser, folgendermaßen: „Es sind keine … Continue reading Dies konterte Bernstein mit dem Vorwurf des „Dogmatismus“, weil seine Gegner Äußerungen von Marx und Engels gegen ihn ins Feld führten, aber keineswegs in der Lage waren, ihn sachlich zu widerlegen.

Im Jahre 1899 veröffentlichte Bernstein sein wichtigstes programmatisches Werk unter dem Titel „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie.“[13]Bernstein 1899. Das Werk wird hier zitiert nach dem „Marxists Internet Archive“. Dort sind keine Seitenzahlen angegeben. Wenn man aber die entsprechenden Kapitel anklickt, kann man mittels der … Continue reading Darin vertrat er die Ansicht, dass die „Aufgabe, wieder Einheit in die Theorie [des Marxismus RS] zu bringen und Einheit zwischen Theorie und Praxis herzustellen,“ Marx und Engels „ihren Nachfolgern hinterlassen“ hätten. Denn die beiden Vordenker hätten sich „darauf beschränkt“, die Auswirkungen der veränderten Tatsachen „und die bessere Erkenntnis der Tatsachen auf die Ausgestaltung und Anwendung der Theorie […] nur anzudeuten, teils bloß in Bezug auf einzelne Punkte festzustellen.“ Und dabei fehlte es nicht „an Widersprüchen.“ Das war nun für die orthodoxen Marxisten harter Tobak. Hieß es doch nichts anderes, als dass Marx und Engels ihre Analysen den veränderten Tatsachen angepasst hätten, ihre ursprünglichen Ansichten aber nicht zurückgenommen haben, wodurch die „Einheit von Theorie und Praxis“ verloren gegangen sei und sie eine widersprüchliche Theorie hinterlassen hätten. Das hätte dazu geführt, „dass man aus Marx und Engels alles beweisen kann.“[14]Kap. 1, c): Die marxistische Lehre vom Klassenkampf und der Kapitalentwicklung Nun sei es die Aufgabe der Nachfolger, diese Widersprüche zu beseitigten.

Den grundlegenden Fehler in der Methode von Marx und Engels diagnostizierte Bernstein im „Einfluss der hegelschen Dialektik auf den Marxismus“, denn dieser „habe zu spekulativen Konstruktionen geführt“, wie Pierre Séverac den Kern der bernsteinschen „Revision“ beschreibt.[15]Zitiert nach Strohschneider 2019, S. 32.

Dies war für Bernstein auch der Grund für die von Engels als „Illusion“ bezeichnete Erwartung einer proletarischen Revolution durch Marx und Engels seit den 1840er Jahren: „Diese geschichtliche Selbsttäuschung, wie sie der erste beste politische Schwärmer kaum überbieten konnte, würde bei einem Marx, der schon damals ernsthaft Oekonomie getrieben hatte, unbegreiflich sein, wenn man in ihr nicht das Produkt eines Restes Hegelscher Widerspruchsdialektik zu erblicken hätte, das Marx – ebenso wie Engels – sein Lebtag nicht völlig losgeworden ist […]. Wir haben da nicht bloße Ueberschätzung der Aussicht einer politischen Aktion, […] sondern eine rein spekulative Vorwegnahme der Reife einer ökonomischen und sozialen Entwicklung, die noch kaum die ersten Sprossen gezeitigt hatte.“[16]Kap. 1, c); Die marxistische Lehre vom Klassenkampf und der Kapitalentwicklung

Zudem war Bernstein der Meinung, dass die Marxsche Werttheorie in sich widersprüchlich sei. Zwar rechtfertigte er sich damit, dass Engels geäußert hätte, dass die Werttheorie kein unverzichtbarer Grundstein des Marxismus wäre, aber immerhin bildete sie die Grundlage und den Kern der ökonomischen Theorie des Marxismus, mit deren Hilfe Marx und Engels den zwangsläufigen Zusammenbruch des Kapitalismus abgeleitet hatten. Nebenbei bemerkt, zwingt die Tatsache, dass der Kapitalismus auch 125 Jahre später noch nicht zusammengebrochen ist, in der Tat dazu, erneut zu überprüfen, ob die Werttheorie überhaupt die Wirklichkeit korrekt wiedergibt oder ob nur die Schlüsse falsch waren, die die beiden Revolutionäre daraus gezogen haben.

Bernstein ging aber weit darüber hinaus[17]Sein grundlegendes Werk, in dem er die Zahlen, Daten und Fakten aufführte, aus denen er seine Schlüsse gezogen hatte, ist das bereits erwähnte Werk: „Die Voraussetzungen des Sozialismus und … Continue reading und belegte mit aktuellen Zahlen, dass es in den letzten 50 Jahren keine Zunahme der Verelendung des Proletariats gegeben habe, dass im Gegenteil der Reallohn der Industriearbeiter deutlich zugenommen hätte – eine Tatsache, die nicht den Erwartungen der beiden entsprach. Auch der Mittelstand sei keineswegs verschwunden, wie auch die Zahl der Kapitalisten vor allem durch die Aktiengesellschaften sich sogar vergrößert hätte. Er war zudem der Meinung, dass der Zusammenbruch des Kapitalismus auf jeden Fall nicht in naher Zukunft zu erwarten sei und stellte die Frage, ob eine Revolution in einer Demokratie überhaupt noch notwendig wäre, wenn die Bourgeoisie nicht gewaltsam gegen Beschlüsse der Mehrheit vorgehe.[18]Die zwingende Notwendigkeit der gewaltsamen Revolution hatte Engels in seinem Text ja auch verneint. Denn „die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie [… auch] noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“[19]Bernstein 1899, Kap. 4, c): Demokratie und Sozialismus. Er kam auf Grund der Erfahrungen der Revolution in Russland im Jahre 1905 sogar „notgedrungen zu der Folgerung, dass die Arbeiter die Fabriken weder werden übernehmen wollen noch können.“[20]Bernstein 1909, zit. nach Strohschneider 2019, S. 90. So erschien es Bernstein erforderlich, dass die Arbeiter bereits im Kapitalismus an der Betriebsführung beteiligt werden müssten, um sie auf die Übernahme im Sozialismus vorzubereiten – insofern war er einer der gedanklichen Väter der Mitbestimmung.

Das gleiche konstatierte er für die politische Herrschaft der Arbeiterklasse: „Trotz der großen Fortschritte, welche die Arbeiterklasse in intellektueller, politischer und gewerblicher Hinsicht seit den Tagen gemacht hat, wo Marx und Engels schrieben, halte ich sie doch selbst heute noch nicht für entwickelt genug, die politische Herrschaft zu übernehmen.“[21]Bernstein 1899, Schlußkapitel: Endziel und Bewegung. Siehe dazu auch Strohschneider 2019, S. 16.

Mit anderen Worten: „Die Diktatur des Proletariats heißt, wo die Arbeiterklasse nicht schon sehr starke eigene Organisationen wirthschaftlichen Charakters besitzt und durch Schulung in Selbstverwaltungskörpern einen hohen Grad von geistiger Selbständigkeit erreicht hat, die Diktatur von Klubrednern und Literaten.“[22]Bernstein 1899, Schlußkapitel: Endziel und Bewegung Wer erkennt in den „Klubrednern“ und „Literaten“ nicht die späteren bolschewistischen Herrscher in Russland, die allesamt keine Proletarier waren. Auch das Führungspersonal der Pariser Kommune waren neben Handwerkern vor allem „Klubredner“ und „Literaten“ gewesen. Proletarier waren nicht darunter.

Letztlich lehnte er sogar die Vorstellung einer „Diktatur des Proletariats“, wie sie vor allem Engels immer wieder vehement gefordert hatte, vollständig ab. Er erklärte diesen Ausdruck sogar als eine anachronistische Phrase.[23]Bernstein 1899, Kap. 4 c): Demokratie und Sozialismus. Er ging soweit zu behaupten, dass auch nach der Einführung des Sozialismus – an diesem Ziel hielt er fest – weiterhin eine allgemeine Demokratie herrschen müsse,[24]Ob und inwieweit Engels am Ende seines Lebens einen friedlichen Weg zum Sozialismus für möglich hielt, wird an anderer Stelle untersucht. weshalb man ihn mit Fug und Recht als Vater des „demokratischen Sozialismus“ ansehen kann. Außerdem wies er darauf hin, dass auch die Mehrheit in einer Demokratie den Gesetzen unterliege, so dass keine Willkür gegenüber der Minderheit ausgeübt werden dürfe.[25]Bernstein 1899, Kap. 4 c): Demokratie und Sozialismus. Das war einer der ganz fundamentalen Unterschiede zum orthodoxen Marxismus, weil Marx und Engels den Rechtsstaat für überflüssig hielten, deren Fehlen ja alle realen kommunistischen Staaten gekennzeichnet hat.

Hiermit hatte Bernstein die programmatische Abkehr vom orthodoxen Marxismus, der sich streng an die Schriften der Klassiker hielt, eingeleitet und die theoretischen Grundlagen des Reformismus gelegt und damit den Revisionismusstreit ausgelöst, wie es seine Kritiker nannten, zu denen zuvörderst sein Freund Karl Kautsky[26]So schrieb er seinem Freund und Weggefährten im Jahre 1899: „Ich bin überzeugt, dass Deine jetzigen Anschauungen unsere Sache aufs schwerste schädigen müssen, und ich halte es jetzt für die … Continue reading gehörte.

Nicht ganz zu Unrecht glaubte Bernstein: „Wer nur ein wenig die Geschichte der Sozialdemokratie kennt, wird auch wissen, daß die Partei groß geworden ist durch fortgesetztes Zuwiderhandeln gegen solche Theorien und Verletzung der auf Grund ihrer gefaßten Beschlüsse.“[27]Bernstein 1899, Schlußkapitel: Endziel und Bewegung. Bernstein wies hiermit darauf hin, dass die SPD schon lange „reformistisch“ handelte, wofür er jetzt die passende Theorie entwickeln hatte.

Bernsteins Wirken in Deutschland ab 1901

Als Bernstein diesen Streit in den 1890er-Jahre auslöste, befand er sich noch in seinem Londoner Exil. Erst 1901 kehrte er nach Aufhebung des auf ihn ausgestellten Haftbefehls nach Deutschland zurück und wurde 1902–1907, 1912–1918 und 1920–1928 Mitglied des Reichstages für den Wahlkreis Breslau-West. Obgleich auf Antrag Karl Kautskys der SPD-Parteitag von Dresden im Jahre 1903 die Positionen Bernsteins scharf ablehnte, gewann Bernstein immer mehr Einfluss innerhalb der Partei.

Obwohl Rosa Luxemburg Eduard Bernstein als die „Inkarnation des ›Verrats an der Arbeiterklasse‹“ bezeichnet und ihn der „Abkehr vom Marxismus“ beschuldigt hatte, zählte dieser während des Ersten Weltkrieges (neben Rosa Luxemburg selber und Karl Kautsky) zu den wenigen deutschen Politikern, die sich gegen den Krieg aussprachen. Bernstein protestierte auch öffentlich gegen den Völkermord an den Armeniern im verbündeten Osmanischen Reich. Er stimmte gegen die Kriegskredite und wandte sich gegen die Burgfriedenspolitik seiner Partei während des Krieges. Und das, obwohl er grundsätzlich anerkannt hatte, dass die Sozialdemokratie, die die „rechtlosen […] Arbeiter der vierziger Jahre“ zu „Bürger“n gemacht habe, das „nationale Interesse gleich entschieden wahrzunehmen“ habe wie die „Klasseninteressen“.[28]Bernstein 1899, Kap. 4 d): Die nächsten Aufgaben der Sozialdemokratie. Aber er erkannte, dass dieser Krieg kein Verteidigungskrieg war, sondern von allen Seiten als Eroberungskrieg geführt wurde. Und einen solchen lehnte er entschieden ab.

Nachdem die Kriegsgegner im Reichstag aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen worden waren, kam es 1917 zur Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), an der auch Bernstein mitwirkte. Nach der Novemberrevolution im Jahre 1918 war er als USPD-Mitglied in der Regierung der Volksbeauftragten Beigeordneter im Reichsschatzamt und intensiv um eine Wiedervereinigung von MSPD und USPD bemüht. Nachdem sich die USPD aber immer weiter radikalisierte, ging Bernstein aufgrund seiner im Grunde reformistischen Haltung wieder zurück zur SPD, wohingegen ein anderer Teil der USPD-Mitglieder nach und nach zur neu gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) wechselte.

Bernstein arbeitete anschließend im Außenministerium, wo er versuchte, mittels der Akten die deutsche Kriegsschuld zu beweisen. Eine Ansicht, die bis zur Fischer-Kontroverse in der Bundesrepublik ja reichlich verpönt war. Im Jahre 1919 gab er zudem die Gesammelten Reden und Schriften von Ferdinand Lassalle heraus. Am frühen Morgen des 18. Dezember 1932 verstarb Bernstein in seiner Wohnung in Berlin. Eine erneute Emigration, die nach der Machtübergabe an Hitler für ihn lebensnotwendig gewesen wäre, blieb im deshalb erspart.

Zur Mittagsstunde begab sich der damalige SPD-Vorsitzende Otto Wels in die Wohnung von Bernstein »und legte auf die Brust des toten Vorkämpfer«, wie der Vorwärts zu berichten wusste, »einen Strauß roter Nelken nieder«. Als Bernstein am 3. Januar 1933 beigesetzt wurde, kam eine »mehrtausendköpfige Menschenmenge« zusammen, wie die Vossische Zeitung schrieb. Es war ein Abschied von einem der Großen der Arbeiterbewegung, der noch Marx und Engels persönlich gekannt hatte.

Die kommunistische Rote Fahne hatte natürlich keine gute Meinung von dem „Revisionisten“ und rief im hinterher, dass seine Ansichten „auf die Verewigung der Versklavung des Proletariats und der Verewigung der Herrschaft der Bourgeoisie« hinauslaufe. Bei Bernstein habe man es »nicht mehr mit opportunistischen Abweichungen vom revolutionären Marxismus, sondern mit einer vollständigen Revision des Marxismus überhaupt zu tun«.[29]Nach Strohschneider 2019, S. 51 f. Letzteres ist sicher richtig. Die Frage ist nur, ob nicht genau diese Revision im Interesse der Arbeiterklasse gelegen hat und nicht die Revolutionsrhetorik der Kommunisten.

Mit dem Godesberger Programm von 1959 setzte sich in der SPD die Abkehr vom orthodoxen Marxismus und die Hinwendung zum Reformismus, die lange vorher schon dem Handeln der Partei entsprach, auch programmatisch durch. In der DDR waren die Schriften Bernsteins dagegen Tabu. In den 1970er Jahren gab es eine kleine Bernstein-Renaissance in der BRD. Aber heute ist sein Name fast vollständig vergessen. Seine inhaltlichen Positionen kennen allerhöchstens Spezialisten.[30]S. Strohschneider 2019, S. 53 ff. Zahlreiche seiner Schriften harren noch der Herausgabe. Und das, obwohl er die Politik der SPD wesentlich stärker geprägt hat als Marx oder selbst Engels.

Heute könnte die SPD in ihren Wahlniederungen sicherlich mehr von dem realistischen Blick eines Eduard Bernstein lernen als von den schönen Träumen eines Marx und Engels.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Marx schickte die 20-seitige Kritik nur an einige Gewährsleute in der Partei. Engels veröffentlichte die interne Kritik posthum im Jahre 1891 (MEW 22, S. 13-32), um die zu der Zeit geplante Neuformulierung des Parteiprogramms zu beeinflussen, in dem sich dann dank Bernstein und Kautsky die Theorien von Marx und Engels stark niederschlugen (Erfurter Programm).
2 Friedrich Engels: „Einleitung [zu Karl Marx’ ‚Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850’ (1895)]“, in: MEW 22, S. 509-527.
3 Siehe zu den Auseinandersetzungen um die Bedeutung und Interpretation dieses Textes Nippel 2020.
4 MEW 22, S. 513.
5 MEW 22, S. 645, Anm. 434.
6 MEW 22, S. 510.
7 Strohschneider 2019, S. 75.
8 MEW 22, S. 511. Dieser Text entstammt einem gemeinsamen Artikel von Marx und Engels aus dem Jahre 1850, den Engels in der Veröffentlichung den Texten von Marx angefügt hatte (s. MEW 7, S. 592, Anm. 140). Nur nebenbei sei hier bemerkt, dass auch diese Erwartung nicht eingetroffen ist. Es hat in den folgenden 125 Jahren Wirtschaftskrisen in einem Ausmaß gegeben, von denen Engels damals nicht mal zu träumen gewagt hätte – man denke nur an die Weltwirtschaftskrise von 1929. Aber keine dieser Krisen hat zum Zusammenbruch des Kapitalismus geführt oder eine Revolution hervorgerufen. Die kommunistischen Revolutionen, die stattgefunden haben – ob nun mit Erfolg oder ohne –, ereigneten sich während kriegerischer Auseinandersetzungen oder direkt danach. Häufig als Reaktion auf bürgerliche Revolutionen, wie in Russland und China, oder nach verlorenen Kriegen, wie 1871 in Paris oder in Deutschland im Jahre 1919. Also immer in Situationen, in denen die staatlichen Strukturen teilweise zerstört waren, so dass eine kleine entschlossene Minderheit die Macht ergreifen konnte.
9 MEW 22, S. 512.
10 MEW 22, S. 513.
11 MEW 22, S. 515.
12 Bernstein selber formulierte diesen Widerspruch, einerseits die Methode von Marx zu benutzen aber anderseits zu anderen Schlussfolgerungen zu kommen als dieser, folgendermaßen: „Es sind keine antimarxistischen Gedanken, die ich da ausspreche, es sind Folgerungen, die, wenn auch Marx selbst sie nicht gezogen hat, doch im Einklang mit dem Fundamentalgedanken seiner Theorie stehen.“ (Bernstein 1909, zit. nach Strohschneider 2019, S. 90.).
13 Bernstein 1899. Das Werk wird hier zitiert nach dem „Marxists Internet Archive“. Dort sind keine Seitenzahlen angegeben. Wenn man aber die entsprechenden Kapitel anklickt, kann man mittels der Suchfunktion leicht die entsprechenden Zitate finden.
14 Kap. 1, c): Die marxistische Lehre vom Klassenkampf und der Kapitalentwicklung
15 Zitiert nach Strohschneider 2019, S. 32.
16 Kap. 1, c); Die marxistische Lehre vom Klassenkampf und der Kapitalentwicklung
17 Sein grundlegendes Werk, in dem er die Zahlen, Daten und Fakten aufführte, aus denen er seine Schlüsse gezogen hatte, ist das bereits erwähnte Werk: „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ (s. Bernstein 1899). Siehe dazu aber auch die kurzen Vorträge: Bernstein 1901 und 1905, die in Strohschneider 2019 abgedruckt wurden.
18 Die zwingende Notwendigkeit der gewaltsamen Revolution hatte Engels in seinem Text ja auch verneint.
19 Bernstein 1899, Kap. 4, c): Demokratie und Sozialismus.
20 Bernstein 1909, zit. nach Strohschneider 2019, S. 90.
21 Bernstein 1899, Schlußkapitel: Endziel und Bewegung. Siehe dazu auch Strohschneider 2019, S. 16.
22 Bernstein 1899, Schlußkapitel: Endziel und Bewegung
23 Bernstein 1899, Kap. 4 c): Demokratie und Sozialismus.
24 Ob und inwieweit Engels am Ende seines Lebens einen friedlichen Weg zum Sozialismus für möglich hielt, wird an anderer Stelle untersucht.
25 Bernstein 1899, Kap. 4 c): Demokratie und Sozialismus.
26 So schrieb er seinem Freund und Weggefährten im Jahre 1899: „Ich bin überzeugt, dass Deine jetzigen Anschauungen unsere Sache aufs schwerste schädigen müssen, und ich halte es jetzt für die Hauptaufgabe der Neuen Zeit [theoretische Zeitschrift der SPD, die von Kautsky gegründet und bis 1917 geleitet wurde], Deinen Standpunkt zu bekämpfen.“ (zit. nach Strohschneider 2019, S. 10 f.). Nach den Erfahrungen der „Oktoberrevolution“ kritisierte Kautsky diese Art der „Diktatur des Proletariats“, was ihn wieder näher zu Bernstein führte, ihm aber scharfe Kritik von Rosa Luxemburg und Lenin („Renegat Kautsky“) einbrachte. So radikal wie Bernstein entwickelte Kautsky die Kritik an Marx und Engels allerdings auch später nicht. Die näheren Umstände dieser Auseinandersetzung werden an anderer Stelle beleuchtet.
27 Bernstein 1899, Schlußkapitel: Endziel und Bewegung.
28 Bernstein 1899, Kap. 4 d): Die nächsten Aufgaben der Sozialdemokratie.
29 Nach Strohschneider 2019, S. 51 f.
30 S. Strohschneider 2019, S. 53 ff.